PunktKomma ist ein Literarisch-politisch-philosophischer Blog. hereinspaziert!

Ich habe lange gezögert, ob ich all diese Texte, die hier wohnen, für ein Buch aufbewahren und sie erst dann als Tinte auf Papier in die Welt schicken sollte. Ich merkte aber nach einem Dreivierteljahr Arbeit, dass das Schreiben für mich kein Akt des Perfektionsanstrebens ist, sondern ein ständiges Weiterspinnen von Ideen, ein Nachdenken im Dialog. So wie es Sprechdenken gibt, so sehe ich das öffentliche Schreiben als Sprechschreiben; ein Handeln im Sinne Hannah Arendts, ein Rausgehen und ein ungeplantes In-Den-Dialog treten, ein Existieren in der Interaktion mit anderen Menschen; vielleicht ab jetzt auch mit dir?

Warum Punktkomma? Weil ein Gedanke den nächsten gebiert. Weil er für sich stehen bleiben, aber auch weitergeführt werden kann. Weil mehr Dinge eine Aufzählung bilden können, als uns lieb wäre.

 

Hier wird es keine klare Trennung zwischen Persönlichem und Theoretischem geben; manche Texte werden philosophisch sein; andere essayistisch oder autobiografisch; manche politisch, aus der oppositionell-russischen Perspektive; viele tagesaktuell.

 

Ich weiß noch nicht, was bleibt und was vergeht; ich möchte einfach schreiben. Kommst du mit?


Diese Geschichten sind alle wahr. So wahr, wie unsere Erinnerungen. Mit einer Prise Wunschdenken, zwei Löffeln Verdrängung, ein paar Retuschen durch die selektive Wahrnehmung und einem Blickwinkelspagat zwischen Nächstenliebe und Narzissmus. Hier und da durch die Erinnerungslücken radiert und frei nach Form nachgezeichnet. Und im Sinne der Kunstfreiheit stellenweise etwas überzogen. So wie du es auch aus den Tischgesprächen kennst.

Was möchtest du heute lesen?

Unentschlossen?

(oder sowas in der Art, was da auch Netflix immer schreibt, damit du nicht abspringst)

Ooooder lies einfach drauf los:

Steuer ist tot. Lang lebe die Steuer

oder warum ich für minarchistischen Libertarismus bin

 

Ich glaube daran, dass Menschen grundsätzlich gut sind. Dass sie fähig sind, Verantwortung zu übernehmen – für sich, für andere und für die Gemeinschaft. Was wir brauchen, ist kein bürokratisch-wuchernder Staat, der alles reguliert, sondern ein Raum, in dem Freiheit wachsen kann.

 

Ein Staat, der zwar schützt und sichert aber auch ermöglicht. Der auffängt, nur wenn es nötig ist, und gleichzeitig Platz lässt für Eigeninitiative, Mut und Bewegung. Ein Staat, der sich auf das Wesentliche konzentriert und Menschen zutraut, das Ihre selbst zu gestalten.

 

Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig Absicherung sein kann. Es gab Phasen in meinem Leben, in denen ich auf Unterstützung angewiesen war. Dachte ich zumindest. Während Coronalockdown Theaterschule absolviert zu haben, war echt kein schöner Zeitpunkt. Ich war dankbar, dass es Hilfen gab. Gleichzeitig habe ich gespürt, wie schwer es dann war, sich daraus wieder in Bewegung zu setzen. Es hat mich gelähmt. Ich hab's mir in meinem künstlerischen Häuschen in meinem Kopf bequem gemacht, während andere in Ermangelung der Masken kaum geschützt in Supermärkten an der Kasse standen. Heute schäme ich mich dafür, obwohl die Umgebung mich sogar dazu animiert hatte.

 

Das war falsch. Hilfe darf nicht zu einer Bremse werden. Das System funktioniert nur, wenn es von moralischem Bewusstsein getragen wird. Bequemlichkeit und Anspruchsdenken haben hier nichts verloren. Das Ganze funktioniert nur, wenn wir uns ständig selbst fragen: Brauche ich das gerade wirklich? Oder kann ich stattdessen sogar geben?

 

Ich möchte eine Gesellschaft, die individuelle Stärke belohnt, ohne die Schwächsten zu übersehen. Eine Gesellschaft, in der Leistung nicht gedeckelt wird. Eine Gesellschaft, in der Einsatz belohnt wird und Wohlstand nicht beneidet und größtenteils weggenommen wird. Vor allem ist es nicht dasselbe, ob jemand sein Vermögen durch harte Arbeit, kluge Entscheidungen und persönliches Risiko aufgebaut hat – oder ob er es geerbt oder gewonnen hat. Letzteres wird bei uns aber nicht besteuert und ersteres fast zur Hälfte. Das führt nur dazu, dass die Menschen, die der Gemeinschaft helfen könnten, entweder in weiser Voraussicht auswandern oder an ihren Geschäftsmodellen so feilen, dass da kaum was in die gemeinsame Kasse fließt. Dabei spenden viele dieser Leute an verschiedene NGOs und Iniativen. Warum ist also die Steuer so verpönt? Weil diese Steuerkasse ein Bermudadreieck mit allverschlingendem Boden zu sein scheint. Weil keiner mehr konkret und anschaulich blickt, wofür er da eigentlich zahlt.

 

Wenn ich meinen Grafikdesignkunden eine Rechnung schreibe, möchten sie in der Regel zurecht wissen, welche Tätigkeit wie viel Zeit in Anspruch nimmt und ergo so und so viel kostet. 

 

Ich möchte ein System, das transparent ist. Das mir zeigt, wofür ich zahle. So und so viel für die Schwächsten, so und so viel für die neue Autobahn, so und so viel für die Deutsche Bahn (das würde ich wahrscheinlich nach nächster Verspätung einklagen), so und so viel für medizinische Einrichtungen, für Schulen, für die Polizei. Natürlich, kann ich vieles über die Staatsausgaben online finden, aber die Transparenz seitens Nehmender wird nicht explizit angestrebt, und das ist verkehrt. Steuern sollen spürbar sinnvoll sein. Nicht als Belastung, sondern als verhältnismäßiger Beitrag zu etwas, das uns trägt.

 

Ich will auch, dass es sich lohnt, mehr zu tun. Dass Investitionsmut, Arbeit und Einsatz gut belohnt werden. Ich will, dass Erfolg nicht verdächtig ist, sondern inspirierend. Dass wir anderen Wohlstand gönnen, weil wir wissen: Ihr Erfolg bedeutet nicht unser Verlust. Im Gegenteil – wenn jeder Einzelne aufblüht, blüht das ganze Beet. Das leben ist kein Nullsummenspiel, eher umgekehrt – wir sind Multiplikatoren (obwohl dieses Wort so unfassbar abgelutscht ist).

 

Aber all das erfordert eine neue Ehrlichkeit. Vor allem mit uns selbst.


Ich weiß heute: In Zeiten, in denen ich vom Staat genommen habe, hätte ich etwas beitragen können. Ich hätte nur jemanden gebraucht, der mich daran erinnern würde: Du kannst. Trau dich.

 

Ein minimaler Staat braucht eine maximale Haltung. Er braucht Menschen, die sich trauen. Die Verantwortung wollen und können. Die nicht nur im staatlichen All-Inklusive-Hotel Rechte fordern, sondern sich fragen: Was kann ich beitragen?


Und ich glaube daran, dass viele Menschen diese Haltung in sich tragen, wenn man ihnen nicht alles abnimmt.

Denn wer Verantwortung übernimmt, spürt sein Leben auf eine andere Weise. Wer sich selbst trägt, erlebt Freiheit, und aus dieser Freiheit erwächst die Gemeinschaft.


Freiheit macht stark. Und Stärke verbindet. Es baut sich dann alles aufeinander auf, wie wenn man einen Dominosteinefall zurückspult.

 

Ich will keine Ellenbogengesellschaft. Ich träume von einer Gemeinschaft aus freien, verantwortungsvollen Menschen, die einander Rückenwind geben. Ein starkes Netz unter freien Seilen.

 

Minarchismus bedeutet für mich: nicht nur weniger Staat, sondern auch mehr Mensch.
Mehr Eigenverantwortung. Mehr Transparenz. Mehr freiwillige Solidarität, weil sie aus Überzeugung kommt. 

 

Ich wünsche mir ein System, das ermutigt.
Eines, das sagt: Du kannst. Geh los. Wir stehen hinter dir.
Und wenn du fällst, wirst du getragen. Und zwar nur so lange, wie du es wirklich brauchst. Zu deinem Besten.

 

Der minarchistische Libertarismus steht für genau diesen Gedanken. Ein Staat, der sich auf seine Kernaufgaben konzentriert: den Schutz der Grundrechte, Rechtssicherheit und die solidarische Absicherung in echten Notlagen. Z.B. nur Gerichte, Polizei, Armee, Krankenhäuser, Feuerwehr und Sicherung der absolut Schwächsten in Not werden vom Staat organisiert und getragen. Der Rest gehört in die Hände der Menschen, in den freien Markt. Dadurch sinkt die Steuerlast. Libertarismus, v. A. dessen anarchistische Variante, ist derzeit noch eine Utopie. Wichtige Fragen zur Justiz und Sicherheit sind weitestgehend ungeklärt. Dennoch beginnt jede Idee erst in den Fantasien. Und jeder Schritt in diese Richtung, und jeder Gedanke, der sich dahin vorantastet, ist fruchtbar. Dabei ist Minarchismus als Zwischenlösung sogar ziemlich lebensnah und schrittweise umsetzbar. Ich blicke da auf Argentinien, und kann aus eigener Erfahrung sagen - ich war dort im letzten August und habe mit verschiedenen Einheimischen geredet - wie produktiv diese Schritte sein können. Wie lebendig und empowert die Menschen dort wirken.

 

Vielleicht liebe ich dann auch meine Steuererklärung, wie mein argentinischer Guide-Kumpel, wenn ich weiß, dass mein Staat mir nur das Nötige nimmt, und das gebe ich gern.

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selbst;bewusst

Es gibt diesen Moment, da ist man raus.


Raus aus dem Flow, raus aus der Bewegung, raus aus dem natürlichen Drehen, wie ein Kreisel, der ins Stocken gerät. Und dann braucht es eine Kraft, um ihn wieder anzukurbeln. Eine kleine Kraft – aber sie wird so oft unterschätzt.

 

Diese kleine Ankurbelkraft ist entscheidend. Im Persönlichen wie im Politischen.

 

Denn dieses Herausfallen passiert nicht nur im Alltag, es ist auch ein Zustand unserer Zeit. Wir Menschen sind – wie Max Scheler sagte – aus der Natur als Denkende herausgetreten und sehen uns nun vor einem Abgrund. Wir sind nicht mehr in Hypnose wie die Tiere, die einfach sind. Wir dagegen können uns selbst beobachten, reflektieren, uns unserer selbst bewusst werden, oder eben auch nicht.

 

Wenn wir nicht bewusst reagieren, handeln wir wie in Trance. Dann sind wir bloß Reiz-Reaktions-Wesen. Wie Tiere. Und doch eben nicht. Unser Bewusstseinsniveau schwankt, mal sind wir ganz klar und präsent, mal reagieren wir wie im Autopilot. Und genau diese Schwankungen machen uns menschlich.

 

Daraus ergibt sich ein Auftrag: Selbstbewusstsein ist also nicht nur ein Auftritt, sondern ein Akt. Ein Prozess.
Selbstbewusst sein heißt: sich seiner selbst bewusst sein. Heißt, sich zu spüren. Zu wissen, was man tut. Warum man es tut. Und ehrlich zu fragen: Warum wirklich?

 

Das erste Warum ist oft schnell da: Geld.
Und warum das? Sicherheit.
Und warum das? Familie versorgen.
Und warum das? Gesellschaftliche Anerkennung.

Und warum das? 

 

Wie tief traue ich mich, in mich hinein durch die Kette der Warums zu graben? Irgendwo ganz tief liegen sie, unsere Werte, die uns quasi steuern – diffus, aber da.


Und genau deshalb geht es nicht um Werte, die wir uns plakativ auf die Fahne schreiben, sondern um die, die wir tatsächlich leben, oft unbewusst, aber dafür umso wirksamer.

 

Das hat auch Konsequenzen auf politischer Ebene. Jede Agenda, ob rechts oder links, verfolgt ein Ziel. Und auch wenn ich mich eher links von der Mitte aus verorte, weiß ich: Linkssein ist eine Agenda. Demokratie ist eine Agenda. Da liegt kein Wert darin automatisch begraben – der Wert entsteht erst in der gelebten Praxis.

Er entsteht dort, wo Menschen sich mit sich selbst und miteinander verbinden. Wo sie gemeinsam nach dem Warum fragen und bereit sind, ehrlich zu werden – mit sich und mit anderen.

 

Und hier kommt etwas ins Spiel, das oft unterschätzt wird: Unsere innere Haltung, unser Denken, unsere geistige Ausrichtung – sie sind nicht nur individuell bedeutend, sondern auch energetisch wirksam.

 

Was wir denken, wie wir denken, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, das hat Folgen. Nicht nur psychologisch, sondern auch auf einer energetischen Ebene.

 

Alte Traditionen wussten das. Und moderne Formate wie NLP, Meditation oder Visualisierungspraktiken versuchen, dieses Wissen in abgespeckter Form wieder aufleben zu lassen – nur mit einem anderen Vokabular.

Die Kraft der Gedanken ist keine esoterische Floskel, sondern eine energetische Realität: Wer ständig im fremdgesteuerten Widerstand ist, erschöpft sich. Wer dagegen im Kontakt mit seinem echten inneren Warum steht, hat Zugriff auf eine andere Art von Energie. Es geht also nicht darum, sich durchzusetzen um jeden Preis, sondern die Handlungen bewusst zu steuern. Es ist Selbstführung – mit innerem Kompass statt Daueranspannung.

 

Wenn eines dieser tieferen Warums dann da ist, entsteht ein innerer Schwung, ein natürlicher Antrieb, ein Flow, der sich fast wie von selbst entfaltet – und dabei nicht nur uns selbst, sondern auch unser Umfeld mitbewegt.

 

Und genau hier wird auch klar, warum Selbstbewusstsein auf Menschen so attraktiv wirkt. Nicht nur, weil jemand sich perfekt inszeniert, sondern weil dieser jemand ehrlich seiner selbst bewusst ist. Weil wir spüren, dass da jemand im Einklang mit seinen inneren Werten handelt. Wir müssen die Person nicht zwangsläufig mögen, wir können ihre Werte gar verabscheuen, aber wir werden trotzdem anerkennen, dass da jemand im Einklang mit sich selbst ist. Diese Ehrlichkeit strahlt aus. Sie wirkt auf andere. Und in einer Welt, in der so vieles unecht ist, ist das eine Seltenheit, die uns – egal mit welchem Vorzeichen - berührt. Umso wichtiger ist es, für das eigene Warum einzustehen, sonst reißen es diejenigen an sich, deren Werte gefährlich sein könnten.

 

Dabei müssen wir das alles nicht unbedingt verkopft-erwachsen machen. Das Graben in der Warum-Kette ist nicht nur logisch, sondern auch assoziativ und spielerisch. Manchmal ist das Kindische besser: mit Neugierde und peinlicher Ehrlichkeit – genau dort, wo’s ein bisschen reibt.

 

Denn wenn nämlich alle nur dorthin rennen, wo die Reibung am geringsten ist, bleibt der Ort leer, an dem Reibung eigentlich nötig wäre. Unsere Aufgabe ist es nicht, Reibung zu vermeiden, sondern sie zu erleichtern – dort, wo sie richtig ist.

 

Aber das funktioniert nur, wenn wir soweit ehrlich mit uns selbst sind, dass wir auch erkennen, wo diese Reibung für uns und andere nötig ist. Und warum.

 

Und noch etwas zeigt sich in diesem Licht ganz deutlich:
Weil unsere Gedanken energetisch wirksam sind, zerbrechen äußere, auf die Fahne geschriebene Werte an ihrer eigenen Hohlheit, wenn nichts Echtes dahintersteht.


Energie lügt nicht. Was nicht getragen ist von einem echten inneren Warum, hält dem Druck nicht stand. So fällt Fassade nach und nach in sich zusammen – nicht weil jemand sie angreift, sondern weil sie sich selbst entleert.

 

 

Doch wenn wir diese kleine Ankurbelkraft in uns finden – in der Tiefe unserer Warums, im Vertrauen auf unser inneres Drehen dann kommt die Bewegung wieder zurück.

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Ja und

Kennst du das, wenn jemand „Ja, aber …“ sagt – und du alles vor dem Aber sofort vergisst?

 

Mir geht das ständig so. Obwohl der Satz ja eigentlich vermitteln soll: Ja, ich sehe deinen Punkt UND ich habe noch eine andere Perspektive. Aber genau das passiert selten. Viel zu oft wird das Aber als rhetorische Keule benutzt, um dem ersten Teil die Kraft zu nehmen. Und das stört mich. Denn wir leben in einer Zeit, in der es dringend nötig wäre, Dinge nebeneinander stehen lassen zu können. In der es nicht immer um entweder – oder gehen darf.

 

Wir brauchen mehr „Ja, und“.

     

Ja, Putin ist ein Kriegsverbrecher. Und: die NATO-Osterweiterung ist nicht konfliktfrei verlaufen.  Beides ist wahr. Beides darf gleichzeitig gesagt werden. Dagegen kann ich  „Ja, Putin ist ein Kriegsverbrecher, aber...“ nicht mehr hören. Es ist, egal wie gut gemeint es ist, eine Relativierung. Der erste Teil wird abgeschwächt, verliert seine Bedeutung.

 

Das Problem liegt in der Grammatik unserer Gedanken. Sobald wir aber sagen, öffnen wir ein Wertungsgefälle zwischen dem ersten und dem zweiten Halbsatz. Und gerade bei sensiblen, komplexen Themen wie Krieg oder sonstigen politischen Zusammenhängen ist das gefährlich. Denn es geht nicht darum, gegeneinander aufzurechnen, sondern darum, Komplexität auszuhalten.

 

Ich habe gerade eine Philosophiehausarbeit über Kästchenbildung geschrieben. Über Kategorien. Über das Bedürfnis, die Welt und vor allem die eigene Identität penibelst zu sortieren, und die gleichzeitige Gefahr, sich darin zu verlieren. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer spricht von einer „Verlustgeschichte der Ambiguität“. Wir glauben zwar, alles werde heutzutage individueller und differenzierter, aber in Wahrheit landen wir oft nur in immer feineren Schubladen kollektiver Identitäten. Wir versuchen ständig Ambiguität auszulöschen, und sie kehrt doppelt zurück, weil sie sich als Teil der Natur nicht einfach eliminieren lässt.

 

Und deswegen macht das Aber mir Sorgen. Denn in einer Zeit, in der alles lauter wird – Social Media, politische Lager, persönliche Identitäten – brauchen wir nicht noch mehr Aber, sondern mehr Und.

 

„Ja, und“ erlaubt, dass zwei Aussagen gleichzeitig wahr und gleich viel wert sein können.
„Ja, und“ schafft Raum für Nuancen, ohne zu gewichten.
„Ja, und“ ist, wenn man sagt: Ich sehe deinen Punkt. Und ich möchte dir etwas ergänzen, nicht entgegenschleudern.

 

Ich finde, wir sollten im Kleinsten anfangen – bei unseren Gesprächen. Bei unseren Formulierungen. Bei dem inneren Dialog mit uns selbst. Denn Sprache verändert Denken. Und Denken verändert Haltung.

 

 

Also: Ja, die Welt ist kompliziert.
Und genau deshalb müssen wir aufhören, ihr mit Aber zu begegnen.

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Mathe haptisch

Meine Tochter geht in die Waldorfschule, und ich merke immer wieder, wie anders das Lernen dort funktioniert. Es ist einfach viel mehr zum Anfassen. Dinge werden durchspürt. Und ich sehe, wie schnell und gut sie lesen, schreiben und rechnen lernt. Vor allem: Sie versteht wirklich, was sie tut.

 

Besonders Mathe. Mathe!

Keine Tabellen auswendig lernen, keine Lernblätter und ewig langen Hausaufgaben, an denen man abends gemeinsam verzweifelt, sondern einfach Mathe mit dem ganzen Körper begreifen.

 

Bei einem Elternabend durften wir das mal selbst ausprobieren. Wir standen alle im Kreis, jeder bekam eine Zahl von 0 bis 9 zugewiesen. Dann ging’s los: Wir haben uns die 3er-Reihe vorgenommen. Wir sollten dabei das Seil einander weiterreichen und es gemeinsam an den Eckpunkten halten.

 

3 mal 1 ist 3 – das Seil wurde von der 3 festgehalten.

3 mal 2 ist 6 – also weitergereicht zur 6. Jetzt halten beide das Seil.

3 mal 3 ist 9 – Seil zur 9.

Und sobald wir zu den zweistelligen Zahlen kamen, wurde einfach die letzte Ziffer genommen.

Also bei 3 mal 4, das ist 12 (duh!), landet das Seil bei der 2.

Und so weiter bis 30.

 

Am Ende hatte sich das Seil zu einem richtig schönen Stern gespannt. Selbst Erwachsene haben nicht schlecht gestaunt. Nicht nur, weil es schön aussah. Weil es Sinn ergab. 

 

Wenn man die 5er-Reihe so machen würde, dacht ich, ginge das Seil immer nur zwischen der 5 und der 0 hin und her und würde eine Linie bilden. Toll. Lange nicht mehr darüber nachgedacht, wie elegant Mathe sein kann.

 

Einmal hatten die Kinder 40 leere Eierkartons in der Klasse stehen. Jeder Karton hätte Platz für zehn Eier – da stand plötzlich ganz greifbar vor ihnen, was die Zahl 400 tatsächlich haptisch bedeutet. Ein Monument des Zehner-Systems.

 

Ich sehe, wie meine Tochter ein Gefühl für Zahlen entwickelt.
Wie sie merkt: Zahlen sind keine Feinde. Keine Hürden.
Sie sind Formen, Wege, Muster – und manchmal sogar Sterne.

 

 

Und genau so soll erlebrnen sein.

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wahrletztlich

Die Kunst ist der Rand des Zusammenbruchs. Keines offensichtlichen, lauten Zusammenbruchs, sondern einer leisen Implosion, die sich nicht unbedingt im Außen zeigt. Sie ist das Vibrieren unter der Oberfläche. Die Wahrhaftigkeit im Bild, in der Emotion, die dem Bild oder den Personen darin entspringt.

 

Kunst ist der Moment, in dem wir als Zuschauer und als Macher uns in dieser Verletzlichkeit begegnen.

 

Un das ist nicht ausschließlich der Drama vorbehalten. In jeder guten Komödie schwingt dieser Strom mit. Die Figuren müssen sich selbst in absurdester Situation ernst nehmen, dann docken wir uns an. Wir fühlen sie, wir fühlen uns. Dieses Zittern, dem wir uns entziehen wollen und gleichzeitig nicht entfliehen können.

 

Die Grenze ist fein. Jenseits davon liegen Pathos und Fremdscham eng beieinander – das ist nicht der Weg. Oder vielmehr: Es gibt kein nicht. Kein So macht man das. Kein Das habe ich so in der Schauspielschule gelernt. Kein verkopftes Konzept als Auslöser; höchstens als zusätzliche ästhetische Komponente.

 

Es ist egal, um welche Banalität sich die Geschichte dreht – wenn die Hauptfigur still dasitzt und ihr Gesicht in den Händen vergräbt, und es kurz sticht, wenn dieses Vibrieren dich erreicht.

 

Durch den Bildschirm, den Bildrahmen, die Bühnenkante. Wenn wir uns für einen Moment eins fühlen. Einfach in unserem Menschsein.

 

Ich möchte irgendwann mal einen Film drehen, in dem ich 1,5 Stunden ohne Ablenkung in die Kamera blicke und mir nur die Gedanken notiere, die auftauchen. Vielleicht eine Art düstere Antimeditation. Ein Horrortrip zu sich selbst. Solche Experimente, die an die Substanz gehen. Die sich mit sich selbst beschäftigen.

 

Wahrhaftigkeit lässt sich nicht verzweifelt suchen. Sie kommt, wenn man den Weg geht – aufrichtig, mutig, menschlich. Mit einer innerlich eingravierten Empathie, die zeitlebens in uns reingeschnitten wurde und nun als unverwechselbares Muster vernarbt ist. Und wenn wir ähnliche Muster erkennen, zieht es an denselben Stellen. Stiller Schmerz, der aber keiner ist. Ein Zeichen nur, dass wir leben. Der uns dort abholt, wo wir gerade sind. Wenn wir weit in die Ferne und zugleich tief in uns selbst blicken.

 

Wahrscheinlich wollte Aristoteles genau das mit Katharsis beschreiben – diese emotionale Reinigung, die rabiater vorgeht als jede Meditation, aber dann eine andere Tiefe mit sich bringt. Nur leben wir heute in einer anderen Zeit. Wir beschreiben andere Dinge als pathetisch. Wir leben in permanenter Öffentlichkeit und suchen die Wahrhaftigkeit im Kleinen. In den Momenten zwischen den Zeilen, wo scheinbar nichts passiert.

Und wenn mich jemand fragt: Was ist Kunst? Dann genau das. Vielleicht ist das noch mehr Kunst als alles Ambige daran.

 

In einer Welt, die uns im Minutentakt mit bunten TikTok-Videos, plingenden Nachrichten und riesigen Werbebannern bombardiert, möchte man einfach mal zwei Stunden lang in jemandes Augen schauen. Ohne Ablenkung. Ohne Schnitt. Und oft halten wir das gar nicht mehr aus. Wir halten auch uns so lange nicht mehr aus. Zack. Und da ist der schon, der Implus, die Hand gleitet in die Hosentasche zum Handy hin.

 

Wir haben das Gefühl, dass nichts wirklich Neues in der Kunst entsteht. Entstehen kann. Nach den Surrealisten haben wir nur noch dekonstruiert, zerlegt, demoliert, bis keine Zwiebelschale mehr übrig war. Und die Zwiebel ist mittlerweile so trocken, dass sie keine Tränen mehr hervorruft – nur noch Ekel. Wir vermissen das Bild der ganzen Zwiebel. Wollen zurück, uns noch einmal umschauen. Nicht nur in der Kunst – auch in der Wissenschaft würde das guttun. Zurückgehen, schauen, wo wir falsch abgebogen sind. Wo sich noch andere Wege abzweigen könnten.

 

Nicht umsonst sagt man: Mach eine Kinderkiste auf und schau rein. Du wirst überrascht sein, wie vieles davon noch latent in dir da ist.

 

Wir sind so weit gegangen im Richtig-Falsch-Modus – in der Wissenschaft, die gerne schnell postuliert, aber auch in der Kunst, in allem – sodass wir nur noch in Narrativen gefangen sind. Und innerhalb dieser denken. Mein Regiedozent sagte mal: Wenn eine Szene nicht funktioniert, dann geh einen Schritt zurück, in die vorherige Szene. Da liegt oft der Hund begraben. Und ich frage mich: Wie viele Szenen müssten wir in unserem positivistisch-naturalistischen Denken zurückspulen, bis wir wieder auf den grünen Kern stoßen? Oder sollen wir den Weg nicht zumindest noch einmal von ganz hinten fahren, um zu sehen, ob wir richtig liegen? Ob wir wirklich keine unscheinbare aber produktive Kreuzung übersehen haben? Uns als Linke kurz konservativ eintauchen, als Rechte progressiv eintauchen – richtig, aufrichtig eintauchen. Und wenn wir dann immer noch der Meinung sind, wir hätten recht – dann erst haben wir’s wirklich.

 

Auch unsere Wahrnehmung springt. Ich liebe Lars von Triers Filme, vor allem die, die nicht auf großen Leinwänden gelaufen sind. Einer meiner Lieblingsfilme von ihm ist Five Obstructions. Meine Meinung dazu hat sich über jahre aber extrem gewandelt, ich würde sogar sagen, ich habe den Film erst dieses Jahr verstanden.

 

Im Film geht es darum, dass von Trier seinem Mentor Jørgen Leth fünfmal dieselbe Aufgabe stellt: einen seiner Kurzfilme neu zu drehen – aber jedes Mal unter anderen, absichtlich einschränkenden Bedingungen.


Mit 18 dachte ich, die Idee ist, man soll sich als Künstler immer selbst herausfordern, um kreativ zu werden – durch neue Framings, Spiel mit schrägen Formen und damit einhergehendem ästhetischen Widerstand. 

 

Mit 30 sehe ich in diesem Film die Suche nach Wahrhaftigkeit mittels Perfektionsaufgabe und innerer Grenzüberschreitung. Suche nach diesem inneren und äußeren Vibrieren. Der Küsntler soll lernen, das wieder auszustrahlen. Obwohl er schon viele Jahre in seinem Beruf steckt.

 

Und irgendwo bleibt aber dieser Clue aus der Jugend, aus der Kindheit: Dass mir dieser Film gefällt, bevor ich ihn richtig verstehe. Dass Glück und Fülle in und durch innere Verletzlichkeit entstehen. Dass wir das zulassen können – ohne übermäßiges (Selbst-)Mitleid, ohne Pathos.

 

Vielleicht lächeln ältere Leute deswegen weniger, aber wenn – dann gehen sie darin auf. Trotz allem, was sie erlebt haben, können sie lächeln. Sie können wahrletztlich da sein.

 

P.S. Ich stecke gerade in der letzten Woche vor der Philosophie-Hausarbeitabgabe, habe viele tolle neue Grafikdesignkunden und kaum Zeit, nächste Woche bin ich wieder mehr da, versprochen. 

Dieser Beitrag wa übrigens durch den Film "Epidemic" von Lars von Trier inspiriert, toller Film.

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2D und 3D

- Gedanken in Arbeit, die aber schonmal raus wollten -

 

Heute leben wir alle unter dem Aberglauben, dass nur der Mensch gut sein Handwerk beherrscht, der ausschließlich diesem verpflichtet ist. So ein Quatsch. Wir müssen uns alle dringend unbubbeln. Ein Politiker, der seit Generationen nur in der Politik ist und Politik für Politiker und für Bundestag macht und Reden schwingt, hat jeden Bezug zur Realität verloren.

 

Ein Mensch, der bereits im Business unterwegs war und nah am Leben gelebt hat, versteht, was funktionieren kann und was nicht. In der Bubble hat man nur die Vorstellungen von ebendieser Bubble: Wie man das immer schon gemacht hat und man deshalb so auch weitermachen soll, weil man in der Bubble, egal von welcher Seite, von rechts oder links, trotzdem in einer Konvention lebt, dass sich das so gehört.

 

Das ist in jeder Hinsicht problematisch. In der Kunst gibt es den Aberglauben, dass man nur dann Künstler ist, vollständiger, richtiger Künstler ist, wenn man ausschließlich von der Kunst leben kann. Weil man es dann geschafft hat. Aus meinem Leben kann ich berichten, ich habe lange durch die Kunst und mit der Kunst gelebt, vor allem aber durch die Kunst. Und das ging. Ich konnte meine Miete zahlen.

 

Und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich mich verrenne, dass meine Leidenschaft zum Beruf geworden ist und die Endung -ung hinter dem Beruf sich langsam aber sicher in Bürokratie und Konventionen auflöste. Und das ist das Gefährlichste. Wenn man in der eigenen Bubble lebt, dann will man das oder nicht, egal wie immer reflektiert man ist, denkt man trotzdem nur in den Dimensionen, die einen umgeben.

 

Das ist ja auch natürlich. Letztendlich denken wir auch in drei Dimensionen, weil unsere Welt dreidimensional ist. Die vierte Dimension, die können wir uns nur vorstellen als eine mathematische Theorie. Und dasselbe ist es mit dem Leben. Eine Perspektive von außen stellen wir uns wie eine mathematische Theorie vor, und behandeln sie als solche, auch in unserer Kunst.

 

Und das wird irgendwann nicht mehr lebensnah. Ich kann alleine jetzt schon sagen, jetzt ist’s ein Jahr, dass ich kein Theater mache. Und ich glaube, jede Inszenierung, wenn ich sie jetzt machen würde, was ich aktuell nicht möchte, aber wenn ich ich sie jetzt machen würde, dann wäre sie viel besser gewesen als jede einzelne Inszenierung, die ich bisher gemacht habe. Weil ich ein Jahr richtig gelebt habe, abseits vom Theater, und gesehen habe, was das Leben ist.

 

Ich meine, wir wollen ja vom Theater aus Geschichten für die Menschen erzählen, die leben. Aber wir sehen dieses Leben nicht, wir leben ein eigenes Leben in einer eigenen Bubble mit eigenen Konventionen, die nichts mehr zu tun haben mit dem realen Leben.

 

Es ist, als würde man eine 2D-Figur in eine 3D-Welt hineinschmeißen, und sie sich am Anfang in alle Richtungen umblicken würde, sie bliebe trotzdem zweidimnsional, ohne die 3D-Substanz in den Zwischenräumen aufzubauen.

 

Und ich merke wirklich, seitdem ich aus dem Theater raus bin, beginnt diese Substanz in mir zu wachsen, diese Zwischenraumsubstanz zwischen den Rollen, zwischen den Richtungen.

 

Man kann sich das so vorstellen, dass eine 2D-Figur in irgendeine Richtung blickt und selber erst ganz schmal ist, dass sie nicht die Umgebung spürt, die Umgebung nicht richtig wahrnimmt, sie hat nur Blick nach vorne und dann wenn man diese Figur mal kurz in einer 3D-Welt leben lässt, dann beginnt diese Figur sich erstmal zu drehen, und in diesen Drehungen nimmt sie die Zwischenräume wahr.

 

Je mehr diese Figur sich dreht, desto mehr verschwimmen diese Zwischenräume und wachsen dadurch zu festen Strukturen zusammen. Dann wird diese Figur dreidimensional.

 

Und ich glaube, wir müssen als Menschen diesen Weg beschreiten, und ich bin so froh Erlebnisse aller Art gemacht zu haben, weil ich glaube, dass diese Dreidimensionalität uns ausmacht. Sie füllt auch Räume, die wir in uns gerne füllen möchten aber ohne neue Erfahrungen nicht dazu imstande sind.

 

Vielleicht kann man sogar sagen, dass ein junger Mensch sehr schmal ist und dann mit den Jahren langsam an Substanz gewinnt, wenn er sich denn genug dreht. Wenn der Mensch aber starr nur in eine Richtung blickt, dann bleibt er schmal das ganze Leben lang.

 

Es ist auch wichtig, dass man genug Umdrehungen macht, dass man sich nicht nur kurz in eine Richtung dreht und dann wieder zurück, weil dann dieser Zwischenraum nicht oft genug gegangen wird, und unausgefühlt bleibt; wie wenn man mit einer Panoramafunktion ein Foto macht, muss man ja nur langsam mit der Kamera streifen, damit die Umgebung genau aufgezeichnet wird. Sonst ist das einfach nur ein verschwommenes Bild, und scharfgestochen wird es nur da sein, wo man sowieso schon schmal ist, wo man sowieso in dieselbe Richtung nach vorne blickt.

 

Deswegen sind die tiefen Erfahrungen aller Art wichtig, weil man, indem man lebt, sich dreht und sich auch immer wieder zurückdreht auf dieselben Spuren. Und da ist dann wieder diese Ball-Metapher, die ich schon zu den Diskursen entworfen habe, vielleicht kann man das übertragen, dieses Sich-Drehen, auch auf die Diskurse, die sich drehen, und in denen man sich dreht, oder aber sehr lange an einer Stelle verharrt und nur an diese Denksrichtung glaubt, und es dann auch nicht hilft, wenn man sich direkt wieder umkehrt, sich dreht; also, wenn man jetzt zum Beispiel ganz lange links unterwegs war und jetzt direkt zu rechts wechseln würde, dann hätte man nichts an Substanz gewonnen, weil man sich einfach schnell umgedreht hat und wieder so flach und schmal ist wie zuvor. Und diese Ambiguität, nach der wir suchen, kommt erst, wenn man den Weg mehrmals gegangen ist, und langsam gegangen ist.

 

Das ist wie bei den Muskeln. Ich gehe gerade in ein Fitnessstudio, wo wir E- Gym-Maschinen haben, die dich dazu bringen, dass du mit deinen Muskeln nur langsam die Wege gehst und das macht viel mehr aus, als schnelle Wiederholungen, es baut Muskeln auf, es baut eben auch Substanz auf, nach innen und nach außen und das ist dasselbe mit der Dreidimensionalität: Du musst die Bewegung oft, langsam und bedacht wiederholen, wenn du sie schnell machst, bringt das gar nichts.

 

Sport ist übrigens wiederum nochmal eine zusätzliche Perspektive. Warum? Weil ich eben zusätzlich zum Rest meines Lebens Sport mache, regelmäßig, und mich mittlerweile ein bisschen darin auskenne, wöchentlich andere Leute sehe, wie sie Sport machen, und lerne dazu. Und es ist nochmal eine Perspektive auf das Leben, die da aufgeht, und damit auch noch eine Möglichkeit zu assoziieren.

 

Außerdem merke ich, dass ich gerade erst mit Dreißig in manchen Dingen richtig aufwache und sie begreife.   

Ich glaube, das ist die beste Metapher für das Älterwerden: dreidimensionaler werden.

 

Mein Mann sagt manchmal zu mir, ich hätte keinen Kern, weil ich mich viel zu oft um 180 Grad drehe. Jetzt kann ich dem entgegnen, dass ich meinen Kern erst in der Drehung überhaupt finde, wo er sich befindet, weil ich mich wie ein Kreisel um die Achse drehe und mich dabei auch auf dem Brett des Lebens bewege, indem ich mich sowohl um die Achse drehe und dreidimensional werde, als auch mich in diesem Drehen seitwärts, vorwärts und rückwärts bewege. Und so werde ich ich. So positioniere ich mich in der Welt. So finde ich heraus, wo meine Mitte ist, wo diese Drehkraft herauskommt.

 

Dann finde ich nämlich erst, was ich wirklich bin. Sonst halte ich mich mit Kraft in einem aufgehängten Zustand, also ich halte diesen Kreisel auf, der sich eigentlich immer weiter drehen möchte. Das kostet unfassbar viel Kraft. Als würde ich den Uhrzeiger auf irgendeine Uhrzeit stellen, die Uhr anmachen und nicht wollen, dass sie weiter tickt. So ähnlich stelle ich mich auf, wie so eine Figur auf dem Brett des Lebens, in genau diese eine Richtung und möchte nur noch dahin. Und wenn ich aber in diesem Moment, wo ich mich aufgerichtet habe und dahingeschaut habe, drehen würde, würde ich sehen, was ich noch alles machen könnte und möchte, und wenn ich mich dann doch für die Richtung entscheide, wo ich mich ursprünglich hingestellt habe, als für meinen Weg, dann ist es trotzdem besser, dass ich mich davor gedreht habe. Denn dann erst entscheide ich mich wirklich.

 

Weil erstens festige ich diese meine Richtung, weil ich auch im Drehen dort immer auch kurz anhalte, weil es mich anzieht, aber trotzdem Substanz gewinne, indem ich mich immer weiter drehe.

 

Die Menschheit hat sich entfremdet. Wir sind sehr alle zu Spezialisten mutiert, und das wird als eine gute Eigenschaft hervorgehoben. Und das ist aber falsch, weil wir mittlerweile eine KI haben, mit der man E-Mails schreiben kann, Artikel korrektur lesen kann, Bilder erstellen, Kalorien rechnen; mit der man alles machen kann. Und wir merken aber, das größte Problem der KI ist, dass sie flach ist.

 

Also wenn man die Texte von chat GPT beschreiben müsste: die sind eben flach, die sind banal. Und diese Banalität holt uns ein, wenn wir immer mehr mit Maschinen interagieren. Wir werden auch selber zu Maschinen. Und wenn wir selber zu Maschinen werden, sind im im Teufelskreis, aus dem man nicht so leicht wieder rauskommt.

 

Wir wollen eine KI-Super-Intelligenz, aber woraus soll sie denn wachsen, wenn wir eine zweidimensionale Welt für richtig halten. Jede Menschengruppe, jede Bubble hat ihre zweidimensionale Welt und blickt in eine Richtung, ganz scharf nur dahin, und sieht nicht mal die kleinen Schritte rechts und links davon. Und geht mit ganz viel Kraft in diese eine Richtung. Und diese Kraft, also diese 2D-Figur, die dabei am Boden steht, die schlürft dann am Boden, die dreht sich nicht.

 

Der Kreisel dagegen produziert viel weniger Reibung, er ist wie im Flug. Und wir als Gesellschaft, wir sind sehr wissenschaftlich positivistisch eingestellt und gucken nur auf das, was die Leute sagen, die mühsam in eine Richtung ihre Figuren über den Boden ziehen. Und es kratzt dabei gewaltig. Und sie ziehen trotzdem an den Figuren weiter, in dieselbe Richtung immer weiter, weil es scheinbar muss.

 

Dabei versuchen wir als Menschheit, uns auf diesem imaginierten Brett auszubreiten. Versuchen wir, das uns bildlich vorzustellen: Eine Figur, ein Mensch, am Beginn seines Erkenntnisweges steht in der Mitte von der Tafel, und die Tafel verbreitet sich zu allen Enden unendlich weit, und der Mensch steht in der Mitte, die eigentlich gar nicht existieren könnte, weil die Tafel unendlich ist.

 

Aber er steht in irgendeinem Punkt auf dieser Lebenstafel, das passt sogar besser, weil jeder ist ja irgendwo hineingeboren, in bestimmte Verhältnisse, in bestimmten genetischen Vorlauf, und dann stehst er da an diesem Ort auf dieser unendlichen Tafel.

 

Und wenn wir uns im nächsten Schritt als die ganze Menschheit vorstellen, wie wir alle gemeinsam an so einem riesigen Ort stehen und unsere Figuren sind alle in der Mitte, nach außen gerichtet; was gar nicht geht, weil es ein riesiger Kreis werden müsste, außer die Figuren so winzig klein wären, dass man sie fast zu einem Punkt zusammenführen müsste, unsere acht Billionen Figuren. Und dann stehen wir also alle da. An einem Punkt, oder aber an mehreren Punkten, in großen Gruppen, die in ähnliche Verhältnisse hineingeboren wurden. Wir stehen in einem Team zusammen. An einem Punkt im Nichts, wo man nicht sagen kann, ob der Punkt gut oder schlecht ist, ein ist ein Sammelpunkt mit Blickrichtung Unendlichkeit. Und jetzt ist die Frage, wie wir uns alle ausbreiten wollen. Wenn wir alle kreiseln, bleiben wir reibungslos. Wir gleiten in verschiede Richtungen. Und diejenigen, die sich aber in eine starre Richtung kratzend über den Boden schleifen, die Bremsen dabei die ganze Bewegung. Während sie sich mühsam über den Boden schleppen, verstellen sie den anderen den Weg, die sich im Kreiseln gegen sie stoßen.

 

Man soll also um sich und anderer Willen sich drehen, wenn man die Möglichkeit dazu hat. Es ist traurig, wenn es von den anderen vorgegeben wird - du musst dich schleifen, das gibt es nämlich auch, aber wenn du selbst die Möglichkeit hast, und nur über diesen Fall rede ich, dass wenn man selbst die Möglichkeit hat zu entscheiden, nicht zu schleifen, sondern sich zu drehen, dann muss man sich drehen. Sonst ist es ein Vergehen gegen die Menschheit, wenn du nicht tust.

 

Ich habe selber gemerkt, wie mich das Schleifen erwischt hat. Nachdem ich aus dem Theater ausgetreten bin, wo ich schon lange im kratzenden Stillstand war, habe ich angefangen mich zu drehen, habe mich zu Beginn auch total mehrdimensional gefühlt, und bin dann Monate später an einem anderen flachen Punkt gelandet, im Grafikdesign und war eine Weile wieder nur das, nur die Designerin. Ich habe zwar nach außen gesagt, ja, ich bin Grafikdesignerin, und Autorin, und Regisseurin, und Bloggerin, aber das stimmte nicht. Ich habe mein Brot mit Grafikdesign verdient und bin das kopfüber reingestürzt, wie vorher ins Theate. Dabei hätte ich so viel tun können, aber ich habe eben nur das gemacht, und ich habe mich dabei zwar zwischendurch gedreht, gedreht, gedreht, aber landete immer wieder im neuen flachen Punkt. Ich wurde wieder zweidimensional. Das hat meinen Grafikdesignvisionen auch schlecht getan, weil ich mich so darauf versteift hatte. Mittlerweile suche ich langsam wieder raus, treffe neue Kunden, habe neue Ideen, investiere viel Zeit in mein Philosophiestudium, habe zwischendurch ein paar schöne Kammerlesungen und gestalte mein neues Dachbodenbüro. Und bei all dem versuche ich mir beizubringen, früher zu spüren, wann es zu kratzen beginnt. Damit ich wieder Anlauf nehme und mich auf das, was wirklich ist, umschaue.

 

Und ich wünsche mir, weil ich glaube, dass wir alle so sind; deswegen gehört ja zu der Grundbedürfnispyramide, dass irgendwo Richtung Selbstverwirklichung auf der Zwischenstufe noch die Hobbys liegen. Warum brauchen wir die Hobbys? Naja, weil wir uns dadurch ein bisschen drehen, und auch wenn wir sonst eine sehr scharfe Richtung haben, die Bewegung dahin fällt uns leichter durch die Hobbys, wir kreiseln leichter. 

 

Gerade werden wir alle zusätzlich gefordert, weil die KI auf den Markt tritt. Sie kann zwar gerade nur banale Aufgaben übernehmen, aber es gibt eben genug banale Aufgaben, und das soll jetzt gar nicht gegen die einzelnen Leute gehen, ich weiß, es gibt ja auch Berufe und Lebenssituationen, wo man keine Wahl hat, und ich finde dafür sind diejenigen, die eine Wahl haben, umso mehr gefordert. Und sie sind zuständig, sich umzuschauen auf die, die keine Wahl haben und denen die Wahl geben. Nach dem Motto, ich kann mich gut drehen, ich habe die Wahl, okay, während ich mich also ganz toll dahindrehe, guck ich mal kurz zurück, gibt es jemanden dem ich vielleicht den Weg versperre, während ich mich drehe? Oder sind wir vielleicht sehr viele und drehen uns alle in dieselbe Richtung? Macht vielleicht bisschen Platz, wenn ihr seht, dass jemand schleift, weil ihr euch dreht. Oder wenn die Richtung zu voll ist, dreh dich im Sinne aller auf einer etwas anderen Achse davon weg.

 

Wir sind ja auch biologisch als 3D-Kreaturen erschaffen und sollen uns im 3D-Modus wahrnehmen und danach leben. Und unsere Seele, unser Inneres, lechzt danach, ausgelebt zu werden und Dinge zu sehen. Es ist aber auch wichtig, die Dinge nicht zwanghaft zu tun, ich bin zum Beispiel als Kind mit meinen Eltern sehr viel gereist, in sage und schreibe 44 Länder, und kann mich aber an vieles kaum erinnern, weil diese Reisen oft in einem Hop-On-Hop-Off-Touri-Modus waren, zumindest für mich als Kind. Mein Kreisel blieb kurz an diesen ganzen Zwischenhalten kurz stecken, und dreht sich dann aber gleich wieder weiter. Diese kurze Stockspur wurde dabei wieder verrieben. Dieser Halt wurde irrelevant. Diese Spur wurde ausradiert und vergessen.

 

Also sollen wir uns mehr und länger an derselben Sache herumdrehen, dass dort so eine kleine Mulde entsteht, und diese Mulde ebnet dann den weiteren Weg auf dem Lebensbrett. Und dann vielleicht wird unser Weg durch diese Mulde natürlich hervorgerufen, weil man sich dann eher an dieser Mulde entlang weiterdreht. Dann ist es auch gut. Vielleicht ist es energetisch der günstigste Weg, auf den uns diese Mulde einlädt.

 

Das Reiben ist jedenfalls immer das Schlimmste. Das habe ich übrigens auch festgestellt, dass wenn man in eine Richtung reibt, ist man verloren. Weil all die Leute, die wirklich was erreichen in einer bestimmten Richtung, sie drehen sich in den Mulden. Sie reiben nicht. Das Reiben bringt gar nichts. Man kommt sehr langsam voran, und unter der Figur kratzt es dabei fürchterlich. Und man merkt es oft nicht gleich. Und wenn man das dann merkt, wenn man sich dann umschaut und sieht, boah, ich bin so kurz gekommen.

 

Deswegen gibt es im Kino Method-Acting und im Theater nicht mehr, weil man im Kino noch versucht, diese Wahrhaftigkeit in den Nahaufnahmen, dafür muss man mehrdimensional an die Rollen herangehen, damit es wirkt.

 

Jedenfalls, das, was ich hier gerade assoziativ versuche abzuleiten, dem zugrunde liegt ein energetisches, ein im weiten Sinne physikalisches Gesetz, an den unsere Wissenschaft nicht glaubt, weil wir uns gerne in Einzelheiten und Details verrennen, statt tiefer zu blicken.

 

Die besten Erkenntnisse entstehen aber im Drehen. Bevor DNA-Kette gefunden wurde, wurde sie von einem philosophisch angehauchten Wissenschaftler wie ein Tanz der Moleküle beschrieben. Das nenne ich Denkraum geöffnet. 

 

Diese naturwissenschaftlich-positivistische Denke, an der wir halten, muss dringend aufgelöst werden. Diese Experten-Denke ist gefährlich, sie schafft Deutungshoheiten, schließt die vermeintlichen Laien aus Diskursen aus, wo sie eine entscheidende Rolle spielen könnte, vielleicht gar den Durchbruch schaffen könnten, im vorbeidrehen wie im DNA-Tanz. Gerade schrecken wir Leute nur ab, sie wenden sich ab, sie sabotieren sich daraufhin selbst und denken, sie wären nicht genug, um an diesen Diskursen teilzunehmen. 

 

Also ich glaube, wir brauchen mehr Anbindung aneinander. Also ganz ehrlich. In allem.

 

Da arbeiten zum Beispiel die Wissenschaftler an einem wichtigen Problem. Sie würden gerne herausfinden, wie man dies und das macht. Aber sie arbeiten nur miteinander im engsten Kreis. Sie fragen keinen von außen. Und ich habe oft gemerkt, wenn ich zum Beispiel als Theatermacherin den Laien, zum Beispiel einmal einer Schulklasse, Sachen gezeigt habe, die ich gemacht habe, welch wertvolles Feedback da rauskommen kann. Die Leute von außen, die keine Theaterleute waren, haben mir gesagt, sie hätten die eine Szene nicht verstanden. Die hat ihnen nichts gebracht. Und sobald ich das verständlicher gemacht habe, sobald ich runtergegangen bin mit meinem Ego, mit meiner sogenannten Spezialisierung, ging da plötzlich eine neue Welt auf.

 

Ganz ehrlich, wenn du es nicht einfach erklären kannst, hast du es nicht verstanden. Punkt aus. 

 

Und mein Problem ist, dass es sehr vieles vorausgesetzt wird, bevor man überhaupt in manche Diskurse reinkommt. Und es könnte doch anders sein, deswegen gibt es am Markt als ein etabliertes Mittel das Brainstorming. Warum? Weil irgendwo die Leute durch Trial and Error gemerkt haben, dass es Sinn macht. Und deswegen heißt es ja so: ein Sturm im Gehirn. Gedankenerdbeben. Eine Naturkraft.

 

Und da gibt's aber noch etwas, was die Diskurse von innen heraus zerstört. Also auf diesem Lebensbrett stören uns die vielen Mulden, die vielen Striche, von den ganzen Dingen, die vor uns waren, die Wunden hinterlassen haben, weil man sich ganz lange ganz falsch versteift hatte.

 

Und ich glaube auch, also muss ich ehrlich sagen, also wenn du jetzt ein Linksliberaler bist, dann geh mal in einen Kreis mit sechs AfDlern und überzeuge sie mal, dass Putin nicht gut für Russland ist. Ich habe es nämlich einmal geschafft. Weil ich einfach gesagt habe, ich respektiere deine Meinung. Und lass uns mal reden. Ich erkläre dir das. Ich erkläre dir das als Russin, weil ich da gelebt habe, weil ich das System dort kenne.

 

Ich erkläre dir das. Gerne. Ich erkläre dir das nicht, weil du blöd bist oder falsch im Leben bist, sondern ich erkläre dir das, weil du es nicht weißt. Und ich weiß das. Und deswegen erkläre ich dir das, damit wir uns näher kommen. Aber ich erkläre das nicht aus der Perspektive von wegen, du hast die Welt nicht verstanden, sondern ich erkläre dir meine Perspektive im Drehen. So ganz sanft, im Drehen erkläre ich dir meine Perspektive und ich bringen dich zum Drehen mit mir.

 

Dann würden wir uns begegnen, beim Drehen. Ich drehe dich so ein bisschen in meine Richtung. Rein physikalisch, wenn ich dich drehe, würde ich mich im Uhrzeigersinn und du würdest dich im Gegen-Uhrzeigersinn drehen. Aber wir würden uns beide drehen. Wir würden dabei immer wieder an dem Punkt ankommen, wo wir uns treffen. Boah die Physik ist so toll. Sie erklärt das Leben. Die physikalischen Gesetze. Nimm das einfach mal. Mach eine Ideologie daraus. Wird funktionieren. Ist doch toll.

 

Aber gut, wir drehen uns. Wir drehen uns und wir berühren uns. Und vielleicht finde ich in meinem ganz entspannten Drehen eine Richtung, die dich mitzieht und folge ihr. Dabei drehe ich dich mit. Und du drehst dich gerne. Und wir drehen zusammen.

 

Wenn wir uns aber jetzt im Hass verhacken würden, würden wir nur den Boden zerkratzen und uns kein Nu weiter bewegen. Dann hinterlassen wir wieder Wunden in den gemeinsamen Boden, die nicht mehr ausgelöscht werden können, und wenn, dann bräuchte es viel Kraft. 

 

Es gibt so eine Narbe für den jeden Krieg, der durch die ganzen Länder zieht. Wie so eine ganz eklige, krasse, tiefe Narbe,  verwächst sich nur sehr schwer, wenn überhaupt. In Russland ist sie nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht verwachsen, und wird jetzt nur noch wieder wund gerieben.

 

Dort gibt es noch ganz viele Kränkungen wegen des Zweiten Weltkriegs, die nicht verarbeitet wurden. Also ist die Narbe ist falsch verwachsen. Jetzt müssen wir zusammen gucken, dass wir sie irgendwie wieder heilen. Als Impfung gegen die neuen Kriege. 

 

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Sternenfeuer

Ein Straßenfest. Eigentlich war das gar nicht geplant. Eigentlich wollten wir nur bouldern gehen, meine Tochter und ich. Danach ganz entspannt nach Hause kommen. Und dann? Eigentlich nichts. Sofa. Verkümmern. Es gibt ohnehin nicht viel zu tun.

 

Manchmal fühlt sich mein Leben an wie eine nie endende To-do-Liste. Zwischen Selbstoptimierung (Sport, Meditation, Morgenspaziergänge zur Donau), dem Aufbau meines Businesses, an dem ich zunehmend (ver-)zweifle, meinem Job als selbstständige Grafikdesignerin, der mich täglich aufs Neue herausfordert und meinem Philosophiestudium kurz vor dem Abschluss mit Zigseitenmasterarbeit am Horizont. Irgendwo dazwischen versuche ich, mich selbst nicht zu verlieren.

 

Also waren wir bouldern. Zumindest konnte ich so den Sport auf die zweite Tageshälfte verlagern und in der ersten nur noch arbeiten. An einem Freitag, an dem ich schon um zwei Uhr meine Tochter von der Schule abholen muss. Solche Schulsysteme funktionieren wahrscheinlich nur in Bayern, wo meist ein Elternteil – fast immer ist es die Mutter – entweder gar nicht oder nur halbtags arbeitet. Ich arbeite quasi Vollzeit, und wenn es sein muss, bis tief in die Nacht.

 

Aber das Bouldern war schön. Hat Spaß gemacht. Die eigene Agilität zu testen, den Körper herauszufordern, fast wie in einer Prüfung. Und gemeinsam macht es sowieso mehr Freude. Ich merke, wie erwachsen sie schon ist.

 

Zwei Stunden später, müde, aber zufrieden, fahren wir los. Ich habe es geschafft, das Auto aus der ultraengen Parklücke zu manövrieren, ohne meinen bereits halb herausgehebelten Seitenspiegel nochmal anzuschlagen; eindeutig ein kleiner Triumph. Und plötzlich Trubel. Auf demselben Weg, den wir hierhih gefahren sind, entstand binnen zwei Stunden ein ganzes Straßenfest.

 

Natürlich will meine Tochter hin. Nach kurzem Hin und Her willige ich ein. Alles, was sie dort ausgibt, zahlt sie von ihrem Taschengeld – fairer Deal. Also bleiben wir.

 

Ein typisches Fest: überteuertes Essen, Kinderattraktionen, für die man zu lange ansteht und die viel zu schnell vorbei sind. Als ihr Geld ausgegeben ist, zieht es meine Tochter zur Bühne, wo ein DJ auflegt. Keiner tanzt. Doch das ist ihr egal. Sie beginnt. Erst neben der Bühne, dann vor der Bühne, sie würzt ihre Tanzmoves mit Rädern und Handständen. Halb geschlossene Augen, volle Hingabe, sie schwingt mit der Musik, sie ist davon durchtrunken.

 

Ich stehe daneben, rauchend, und beobachte sie. Ich bin stolz. Stolz, dass sie sich traut. Dass es ihr wirklich egal ist, was andere denken.

 

Eine Kindergruppe schaut von der Seite zu. Sie lachen, tuscheln, kopieren lachend ihre Moves. Aus Freude oder aus Spott? Oder beidem? Vielleicht wissen sie es selbst nicht genau. Ich kenne diese Dynamiken. Ich habe sie selbst oft genug erlebt.

 

Was mich aber traurig macht: Die Kinder kommen nicht näher. Keiner tanzt mit.

 

Die Musik ist aber gut. Mein Körper beginnt zu wippen. Ich denke an meine Clubnächte mit 18. Ich will tanzen. Aber ich tanze nicht. Ich bin nicht mehr sieben. Ich habe sie, diese lähmende Erwachsenenschüchternheit.

 

Langsam nähere ich mich meiner Tochter. Dann kommt ein lateinamerikanischer Track. Ich schwinge die Hüften, vorsichtig, versuchsweise. Die Beine wiegen mit. Schau mich um. Nichts. Ich hoffe, ein anderer Erwachsener macht jetzt mit – irgendjemand. Immerhin fließen hier Cocktails, aber: nichts. Keiner tanzt.

 

Und es sind solche Kleinigkeiten, solche Banalitäten, die in mir diese große Frage wecken: Bin ich hier richtig?

Wer sucht sich schon ein Ort aus, an dem mehr getanzt wird? Und trotzdem: Mir fehlt das. Ich kann keine Kinder mit abwesenden Augen mehr sehen. Ich möchte an der Supermarktkasse nicht angetrieben werden, als wäre Leben ein Wettrennen. Mir fehlen diese kleinen Momente, die sich – wenn man sie zulässt – zu einem erfüllteren Leben addieren könnten.

 

Oft fühle ich mich einsam. Wenn ich keinen Ausflug nach München zu Uni-Freunden plane oder kein Besuch ansteht, weiß ich oft nicht, wohin mit mir. Ich flüchte mich in Selbstoptimierung. Nicht aus Ehrgeiz, sondern aus Leere.

 

Ein Tag drauf, am Samstag: ein Tag voller Erlebnisse. Früh aufgestanden, ein wenig gearbeitet, dann los. Kajakfahren, baden, Beachball, Feuerwehrfest, Lagerfeuer, EM-Public Viewing. Dreizehn Stunden außer Haus.

Ich brauche Eindrücke. Ohne sie – zuhause, am Wochenende – falle ich in ein Loch. Putzen, aufräumen, die Stille in den Wänden. Und plötzlich wird mir das Dach über dem Kopf zu viel.

 

Muss ich mich ständig von außen füllen, damit es innen nicht leer ist?

 

Später am Abend: meine Tochter spielt mit anderen Kindern am Lagerfeuer. Ich sitze auf einem der dicken Holzstämme, kurz bevor er ins Feuer geworfen wird. Man bittet mich, runterzuklettern. Ich setze mich auf die nasse Erde.

 

Ich schaue zu, wie die Funken des riesigen Feuers sich mit den Sternen vermischen.

 

Ich frage mich, ob wir uns so sehr entfremdet haben, dass wir einander und uns selbst nicht mehr genügen. Ob wir uns so sehr in Bildschirme verrannt haben, dass wir nur noch reagieren, und deshalb die Natur so dringend brauchen?

 

Ich weiß nur eines:
Ich möchte dort leben, wo Menschen mittanzen.
Wo an der Supermarktkasse die Zeit kurz stehen bleibt.

Wo gestritten wird, statt gehasst.
Wo Kinderaugen leuchten.
Wo man noch weiß, wie man genießt.

Und ja, es macht mir Angst, mit fast dreißig nochmal neu zu starten.
Aber vielleicht ist genau das jetzt dran. 

Immerhin habe ich den Reset – zumindest beruflich – schon zweimal gedrückt.

 

 

 

Update: Das war einer der letzten autobiografischen Texte, als wir noch in Regensburger Innenstadt in einer kleinen Wohnung wohnten. Wir sind seitdem nach Pentling umgezogen. Nicht so weit weg, wie ursprünglich geplant, aber der Unterschied ist riesig. Ich komme äußerlich und innerlich langsam an. Ich mag die Menschen hier, ich mag die Natur, ich fühl mich verbunden. Den stressigen Online-Business habe ich aufgegeben. Der Grafikdesign macht Spaß, das Studium ist fast fertig. Ich muss nicht mehr zur Donau, ich chille im Garten. Optimieren tu ich mich trotzdem gerne. Liegt wohl an der Nadel im Arsch.

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