PunktKomma ist ein Literarisch-politisch-philosophischer Blog. hereinspaziert!

Ich habe lange gezögert, ob ich all diese Texte, die hier wohnen, für ein Buch aufbewahren und sie erst dann als Tinte auf Papier in die Welt schicken sollte. Ich merkte aber nach einem Dreivierteljahr Arbeit, dass das Schreiben für mich kein Akt des Perfektionsanstrebens ist, sondern ein ständiges Weiterspinnen von Ideen, ein Nachdenken im Dialog. So wie es Sprechdenken gibt, so sehe ich das öffentliche Schreiben als Sprechschreiben; ein Handeln im Sinne Hannah Arendts, ein Rausgehen und ein ungeplantes In-Den-Dialog treten, ein Existieren in der Interaktion mit anderen Menschen; vielleicht ab jetzt auch mit dir?

Warum Punktkomma? Weil ein Gedanke den nächsten gebiert. Weil er für sich stehen bleiben, aber auch weitergeführt werden kann. Weil mehr Dinge eine Aufzählung bilden können, als uns lieb wäre.

 

Hier wird es keine klare Trennung zwischen Persönlichem und Theoretischem geben; manche Texte werden philosophisch sein; andere essayistisch oder autobiografisch; manche politisch, aus der oppositionell-russischen Perspektive; viele tagesaktuell.

 

Ich weiß noch nicht, was bleibt und was vergeht; ich möchte einfach schreiben. Kommst du mit?


Diese Geschichten sind alle wahr. So wahr, wie unsere Erinnerungen. Mit einer Prise Wunschdenken, zwei Löffeln Verdrängung, ein paar Retuschen durch die selektive Wahrnehmung und einem Blickwinkelspagat zwischen Nächstenliebe und Narzissmus. Hier und da durch die Erinnerungslücken radiert und frei nach Form nachgezeichnet. Und im Sinne der Kunstfreiheit stellenweise etwas überzogen. So wie du es auch aus den Tischgesprächen kennst.

Was möchtest du heute lesen?

Unentschlossen?

(oder sowas in der Art, was da auch Netflix immer schreibt, damit du nicht abspringst)

Ooooder lies einfach drauf los:

Seltsame Tiere

Spazierganggedanken in Hodenhagen

 

Wir Menschen sind seltsame Tiere.

 

Ich sitze mit meiner Hündin auf einer kleinen Wiese. Lauwarmer Sommerabend in Hodenhagen. Wir starren (vor allem meine Hündin Sabrina) die drei Pferde gegenüber an, die mitten im Feld hinter einer kleinen Absperrung grasen. Sie tragen seltsame Überzüge über ihren Gesichtern, die ihre Augen komplett verdecken.

 

Meine Sabrina, die sonst keine 2 Sekunden an Ort und Stelle bleiben kann, setzte sich im ersten Anblick dieser drei riesigen Tiere fast schon bedächtig hin und fixierte sie mit dem Blick. Ich setzte mich dazu. 15 Minuten vergingen schon, vielleicht auch mehr, ich blicke nicht auf die Uhr. Wir sitzen da und starren die Pferde an. Die Pferde grasen. Die Sonne steht tief, der Abend bricht langsam ein.

 

Ich spüre immer mehr die Schreiblaune in mir, wie anrollende Wellen der Bedächtigkeit, und doch habe ich das Gefühl, dass ich, sobald ich es beschreibe, sofort die Tiefe dieses Augenblicks verliere. Als müsste ich die Situation so lange wie möglich hinauszögern, so wie man auch einen Orgasmus hinauszögern möchte, um den Schwebezustand des Noch-nicht-Geschehenen zu verlängern. Dieses Gefühl, dass da eine Bedeutung in der Luft hängt, die sich nicht ganz fassen lässt und der, sobald man sie eben erfasst, ihre Intensität entweicht.

 

Über uns sammeln sich die Wolken, die Sonne geht hinter ihnen langsam unter. Durch die dichten Schichten brechen lange dicke Lichtstrahlen hindurch, wie auf einem Gemälde. Die Kanten der Wolken glühen dabei orange im Gegenlicht. Ich stelle mir vor, wie ein Maler der Renaissance solch einen Anblick als Inspiration nimmt, um daraus eine Szene der Niederkunft Gottes zu kreieren. Die Natur selbst ist so gesehen göttlich, sie entzieht sich, wenn man sie beschreiben will. Und das noch lange vor Heisenberg.

 

In letzter Zeit suchen mich oft Gedanken heim, dass wir nur kurze Gäste auf diesem Planeten sind. Ich versuche, sie wegzuschieben; vergeblich. Die Synapsen haben zu oft in diese Richtung gefeuert; die Bahn ist zu tief. Immer wenn ich keinen akuten Stress habe, wandern sie dorthin. Vielleicht ist es genau das, was in Kalendersprüchen heißt: Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter. Doch gerade diese Glückseligkeit, die der zweite Halbsatz neben unserer Vergänglichkeit suggeriert, ist ein flüchtiges Gefühl. Sie entgleitet, sobald man sie fangen will. Ich weiß nicht mehr, ob es Sinn ergibt, ihr nachzujagen.

 

Vor allem, wenn man sich so schnell dabei ertappt, dass man manchmal einfach ein durch Hormone, Unbewusstes und/oder ein so genanntes System 1 (schnelles, automatisches Denken, ganz grob gesagt) getriebenes Wesen ist. Neulich habe ich meinen Handycode geändert, weil ich mich bei dem alten, extra komplizierten, viel zu oft vertippt hatte. Und doch zwingt mich mein System 1 noch immer, den alten Code einzutippen. Ich fühle mich von meinen eigenen Automatismen überlistet. So wie bei einem Lichtschalter, den man nach dem Umstellen noch wochenlang an der alten Stelle antippt.

 

Je mehr ich mich mit Quantenphysik beschäftige, desto stärker wird mir bewusst, dass Physik und Philosophie zwei Seiten derselben Medallie sind: Die Physik kleidet die Mutmaßungen in strenge Logik, die Philosophie in Begriffe. Aber beide tasten seit jeher nach dem, was wir (noch) nicht wissen. Je mehr wir dann dazulernen, desto länger wird bei der wachsenden Insel unseres kollektiven Wissens auch die Küste zum Unbekannten. Das ist ein ganz normaler Prozess.

 

Wir jagen die Kleinstteilchen durch CERN, und unsere Satelliten, die dank Relativitätstheorie ihre Zeit anpassen, ermöglichen uns die GPS auf der Erde in unserer Echtzeit. Wir haben unser DNA quasi entschlüsselt. Impfungen gegen tödliche Krankheiten entwickelt. Wir scheinen richtig weit gekommen zu sein. Und das sind wir auch. Wirklich.

 

Und doch lohnt es sich, immer weiter hinter die Küste in die Gewässer des Unwissenheitsozeans zu blicken. Woraus bestehen die Teilchen, die wir beschreiben? Sind es überhaupt Teilchen, oder sind es Schwingungen der Felder? Wenn letzteres, woraus bestehen dann diese Felder? Warum erleben wir subjektive Qualia? Wozu haben wir das (Selbst-)Bewusstsein? Wir rechnen mit unseren mathematischen Modellen Dinge aus, und sind in unseren Vorhersagen extrem erfolgreich. Unsere Flugzeuge fliegen, Computer funktionieren, eine Super-KI ist im Anmarsch, vielleicht ist auch das Heilmittel gegen Krebs in absehbarer Zukunft da. All das funktioniert ganz gut nach all unseren Modellen (abgesehen von der Quantenphysik, die hält noch viele Überraschungen für uns bereit). Aber ansonsten ist die Zuverlässigkeit unserer Modelle so verführerisch, dass wir oft vergessen, dass das alles nur Modelle sind. Und das, was dahinter liegt, uns verborgen bleibt. Auf ewig? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

 

Wir sind jedenfalls, trotz aller Technik, eben fortgeschrittene Tiere, die ihre eigenen Automatismen beobachten und ihnen anheimfallen.

 

Was kann man von uns fordern, als solcher Art Tiere? Wir sind zwar fähig, uns selbst moralische Gesetze zu geben und dennoch sind wir zutiefst anfällig, sobald es uns persönlich betrifft. Vor einigen Wochen debattierte ich mit einer Freundin über eine strittige #MeToo-Situation, wo meiner Meinung nach vieles darauf hingewiesen hatte, dass die Frau ihren Ex-Freund aus Neid fertig machen und aus der Medialität des Ganzen Profit schlagen wollte. Die Freundin und ich waren uns erstmal in allem einig. Dass die Untersuchungen eingeleitet werden sollen, mit möglichst vielen Zeugen, um das Ganze aufzuklären. Dass Argumente beider Seiten kritisch geprüft werden sollen. Dass #MeToo an sich als Bewegung wichtig und richtig ist, und es kann aber passieren, dass sie, wie jede gute Bewegung auch mal missbraucht werden kann. Dass man nicht anhand einer einzigen ungeprüften Beschludigung auf die Schuld eines Menschen schließen darf. Und dass man gleichzeitig Gewalt (unter anderem psychische) in Beziehungen keinesfalls kleinreden oder unterschätzen darf. Soweit teilten wir also eine gemeinsame moralische Grundlage.

 

Und dann aber, als wir uns an die Bewertung der Situation wagten, erzählte sie einen Fall aus ihrem persönlichen Umkreis, in dem eine Frau psychisch und physisch in einer Beziehung missbraucht wurde; und ich einen, aus meinem Umkreis, in dem ein Mann unschuldig beschuldigt wurde. Wir hörten auch weiter einander zu, stimmten in vielem überein, und dennoch blieben wir uneins. Das führte dazu, dass wir diese strittige Ausgangssituation am Ende des Tages unterschiedlich bewerteten. Denn letztlich führen alle unsere Überzeugungen, wie moralisch sie auch sind, zurück auf die Erfahrungen, die wir selbst oder Menschen in unserem Umfeld gemacht haben. Das ist ernüchternd, und doch das ist zutiefst menschlich.

 

Vor zwei Tagen musste ich mit meiner Tochter ins Krankenhaus. Sie sollte eine kleine Augen-OP unter Narkose bekommen. Mein System 1 (oder System 2, vielleicht auch beide) malten mir Schreckensszenarien aus. Dass es schief gehen würde. Dass sie nicht wieder aufwachen könnte. Den ganzen Tag lief ich mit riesigem Kloß im Bauch herum. In solchen Momenten wird einem klar: Wenn es den Liebsten nicht gut geht, zählt alles andere nicht. Arbeit, Philosophie, Masterarbeit – alles verblasst.

 

Aber gerade dort, in der Begegnung mit Krankenschwestern, Ärzten, Patienten, zeigte sich eine andere Tiefe:

 

Der ältere Herr, der meiner Tochter Mut zusprach und eine High-Five gab.


Die Narkoseärzte, die ihr zum Einschlafen ihre Lieblingsserie anmachten.

 

Die Mitpatientin, die ihre Waffel mit ihr teilte, als der Hunger nach der Operation kam.


Der Arzt, der ihr eine Tapferkeitsurkunde unterschrieb.


Die Krankenschwester, die ihr die letzten Kartoffelknödel aufhob und die Infusionsnadel früher entfernte als vorgeschrieben, weil es ihr wehtat.

 

All das hatte etwas zutiefst Menschliches. Es war eine menschliche Liebe, die dieser (teils sehr triste) Ort ausstrahlte.

 

Als Teenager liebte ich düstere Filme und Bücher. Ich las Dostojewski und verachtete Komödien; ich hielt sie für naiv-wohlwollendes Zeichnen einer Welt, die so nicht existiert. Liebe erschien mir damals kitschig, wie eben ein flüchtiges Gefühl der Verliebtheit, das man in diesem Alter so leicht mit ihr verwechselt. Heute, mit etwas Abstand, sehe ich das anders. Ich glaube, oder hoffe zumindest, dass es ein erstes Zeichen von Reife ist, die Liebe nicht mehr als Kitsch abzutun, sondern als etwas Urmenschliches zu begreifen. In meinem Theaterleben habe ich gelernt, dass es viel leichter ist, ein Drama zu inszenieren, wo alles tragisch misslingt und Menschen an bösen und teils sinnlosen Zufällen zerbrechen, als eine gute Komödie, die zugleich wahrhaftig und lustig ist. Ein beliebiges Drama zu entwerfen ist einfach - auch im echten Leben; es führt fast automatisch in ein Weltbild der verbitterten Hoffnungslosigkeit. Und trotzdem ist es der leichtere Weg, der widerstandslos gelingt. Es ist immer genug Hass da, und wer sucht, der findet. Aber die Liebe, nicht die romantische Verliebtheit, sondern die tiefe, schlichte, urige menschliche Liebe, als wertvoll und tragfähig zu erkennen und sie bewusst in die Welt zu tragen: das ist das Schwierigere, aber auch das Ziel. Und erst jetzt, offiziell in das vierte Jahrzehnt eintretend, beginne ich das wirklich zu begreifen.

 

Und dann dachte ich: Dieses Bild vom einsamen Genie, das Entdeckungen macht oder Meisterwerke schreibt, stimmt nicht. Jedes Werk entsteht durch die Gemeinschaft und durch unzählige Hände: Lehrer, Ärzte, Haushaltshelfer, und, historisch, leider auch durch Sklaven. Kant konnte sein kategorisches Imperativ ergrübeln, weil er nicht selber kochen oder putzen musste.

 

So wurde mir bewusst, dass Hannah Arendts Unterscheidung von Arbeiten, Herstellen und Handeln nicht wirklich trägt: Denn Handeln ist nur möglich, wenn auch gearbeitet wird, sei es von einem selbst oder von anderen.

 

Und noch etwas: Je mehr wir sehen, wie fehlbar unser System 1 ist, desto klarer wird es, dass wir uns nicht als isolierte Bewusstseinssender begreifen sollten. Wir sind vielmehr Empfänger, kleine Teile eines Ganzen, das sich selbst durch uns zu verstehen versucht. (Mir ist der wissenschaftlich-experimentelle Panpsychismus sehr sympatisch, das gebe ich gerne zu).

 

Natürlich tragen wir alle unser Ego, unsere Antriebe, unseren Stolz in uns. Doch der größere Teil unseres Tuns ist uns nicht bewusst. Wir handeln erst und erfinden dann nachträglich Gründe dafür. Wir sind stärker instinktgesteuert, als uns lieb ist. Und solange das so ist, können wir nur in der Gemeinsamkeit bestehen. Jeder Einzelne ist wichtig, nicht nur für sich, sondern als Teil des Ganzen.

 

Vielleicht sollten wir, wenn wir anderen Menschen begegnen, uns öfter daran erinnern: Wir sind eine Spezies, gemeinsam auf diesem Planeten, gemeinsam bemüht, uns selbst und die Welt zu begreifen.

 

Sabrina steht langsam auf und streckt sich. Schaut mich an mit ihren großen braunen Augen. Ich komme zurück aus der Gedankenparallelwelt. Na gut, sag ich, poschli. Werfe den letzten Blick zu den Pferden. Wir gehen heim. Unsere Liebsten warten im Hotel auf uns. Morgen ist Safari. Da wird Sabrina ja richtig staunen, wenn ihr die Pferde schon so angetan haben. 

 

 

(Update: Ich hatte recht. Immerhin hat sie eine Freundschaft mit dem Schaf geschloßen, einen Kamelen abgeleckt und bellend einen Strauß vom Auto ferngehalten).

Wahrheit als Kosten-Nutzen-Rechnung

Ein Essay über epistemische Räume & ein Modellierungsversuch (In Entwicklung)

 

Die Suche nach der Wahrheit

In einer sogenannten postfaktischen Gesellschaft wird Wahrheit zunehmend zum Streitfall. Polarisierte Diskurse, tiefe Meinungsgräben und der Vertrauensverlust gegenüber Medien oder Institutionen führen zu einer Krise des gemeinsamen Erkenntnisraumes. Wenn jede Seite der anderen abspricht, überhaupt auf derselben Grundlage zu argumentieren, kommt es zu dem, was Robert Talisse als deep disagreement bezeichnet: Ein Dissens über grundlegende epistemische Bedingungen des Diskurses.

Doch was ist überhaupt Wahrheit, und was eine Lüge ?

Und kann man sie als Gegensätze betrachten?

 

Oft wird zwischen subjektiver Wahrheit (Überzeugung, Perspektive) und objektiver Wahrheit (Fakten) unterschieden. Doch was gilt als Fakt ? Das hängt vom epistemischen Raum ab, eben jenem Rahmen aus Begriffen, Methoden und Voraussetzungen, in dem Wissen entsteht. In pluralistischen Gesellschaften mit vielfältigen Informationszugängen entstehen schnell unterschiedliche epistemische Räume: Klimapolitik, Impfdebatten oder geopolitische Narrative zeigen, wie wenig selbstverständlich gemeinsame Grundlagen geworden sind.

 

Aus aktuellem Anlass mal ein Beispiel: In der oppositionellen russischen Presse, der ich durchaus sympatisiere, tauchen manchmal Informationen auf, die gut in die eigene Gegen-Putin-Gegen-Krieg-Erzählung passen (der ich ebenfalls sehr sympatisiere), etwa über Korruption, Repressionen oder Kriegsverbrechen. Wenn sich später herausstellt (was kürzlich wieder mal passierte), dass einer der Sendungen aus Versehen ein Fake beigemischt wurde, zeigt sich ein paradoxes Ideal: Die Medien, die ihre Fehler sofort transparent einräumten, stärkten gerade dadurch ihre Glaubwürdigkeit. Wahrheit wird hier nicht als Besitz, sondern als Praxis sichtbar. Als Fähigkeit und Mut zur Selbstkorrektur.

 

Lüge als Vorsatz: Die Intentionalität der Falschaussage

Die Lüge dagegen ist keine bloße Unwahrheit, sondern eine vorsätzliche Inkohärenz zwischen dem, was jemand glaubt, und dem, was er sagt. Wer etwas Falsches sagt, ohne es zu wissen, lügt nicht, sondern irrt. Damit ist die Lüge immer auch ein moralischer und psychologischer Akt, denn sie setzt ein inneres Wissen um die Wahrheit voraus (worin man sich wieder irren kann, natürlich, aber es geht um diese innere Diskrepanz).

 

Daraus folgt also ein vorläufige Definition:


Lüge = inkohärente Aussage bei gleichzeitigem Wissen um die Unwahrheit + Vorsatz zur Täuschung

 

Diese Differenz ist entscheidend: Journalistische Fehler wie im obigen Beispiel sind keine Lügen, sofern keine Täuschungsabsicht dahintersteht.

 

Die Lüge als soziale Praxis: Kultur, Höflichkeit, Macht

Die Lüge ist aber kein Ausrutscher am Rand der Gesellschaft, wie wir gerne glauben würden, sie ist ihr Fundament. Yuval Noah Harari nennt in Eine kurze Geschichte der Menschheit Mythen, Rituale und Fiktionen, auf denen Zivilisationen beruhen, notwendige soziale Konstruktionen und damit produktive Lügen. Auch die höflichen Floskeln des Alltags: Wie geht’s dir? sind meist nicht ehrlich gemeint, sondern Teil eines kulturellen Skripts. Oder kennt ihr nicht das Unbehagen, wenn jemand plötzlich doch unvermittelt erzählt, wie es ihm wirklich geht? 

 

Die Kinder sind am Anfang noch im sozialen Miteinander ein ziemlich leeres Blatt, und sagen alles gerade heraus. Die Eltern wissen, was ich meine. Wo man daneben steht und bitte leise flüstlert und am besten in den Boden versinken würde vor Scham. Und doch auch die Kinder lernen früh, solche netten Lügen zu nutzen: Sie glauben an den Nikolaus, auch wenn sie längst ahnen, wer wirklich hinter dem Geschenkpapier steckt. So kriegen sie ihre Geschenke halt doppelt - vom Nikolaus und von den Eltern.

 

Gesellschaftliche Höflichkeit, kann man unterm Strich sagen, ist eine ritualisierte Form von Lüge, mit dem Ziel, Reibungen zu vermeiden und Harmonie zu erzeugen. Unser Smalltalk, Manieren oder diplomatische Sprache operieren auf einem Konsens der Nicht-Wahrheit; wir wissen, dass nicht alles wörtlich zu nehmen ist, und tun es trotzdem.

 

Die Lüge als Machtmittel

Lügen dienen aber nicht nur der Höflichkeit, sondern (leider) auch der Herrschaft. Wer die Wahrheit kontrolliert, kontrolliert das Bild der Welt. Das zeigt sich in autoritären Systemen, aber auch in subtileren Formen: Politik, Kirche und Werbung arbeiten mit Narrativen, die nicht notwendigerweise wahr sind, aber, wenn wir davon ausgehen, dass sie nicht in your face lügen, dass sie teils mit Teilwahrheiten, teils durchs Verschweigen eine Überzeugung erzeugen wollen.

 

Wahrheit, Lüge und die Kosten-Nutzen-Rechnung

Die Lüge folgt oft einem rationalen Kalkül: Was habe ich zu gewinnen, wenn man mir glaubt, und was zu verlieren, wenn man mich überführt? Diese Kosten-Nutzen-Funktion bildet das Fundament vieler Alltagsentscheidungen. Selbst Schweigen oder Halbwahrheiten sind Varianten dieser Kalkulation.

 

Lügenformel (vereinfachte Heuristik):
Lüge = (subjektive Wahrheit ≠ ausgesprochene Aussage) × (Vorteil – Risiko)

Dabei ist die Wahrheit nicht einfach das Gegenteil der Lüge, sondern die Entscheidung, trotz möglicher Nachteile kongruent zu denken und zu sprechen.

 

VII. Subjektive Wahrheit: Überzeugung, Selbsttäuschung, Manipulation

Interessant wird es, wenn Menschen sich so oft selbst belügen, dass sie an ihre Lügen glauben.

Putins Regime hat offenbar (so Muratow aus Nowaja Gazeta) so lange eigene Propaganda gesendet und sie selber dabei gefressen, bis selbst die Machtspitze von der Idee überzeugt war, die Ukraine in drei Tagen einnehmen zu können. Eine Lüge wurde durch Wiederholung zur geglaubten Wirklichkeit, auch für den Lügner selbst.

 

So verschwimmt dann die Grenze zwischen Lüge und Irrtum. Auch die Lügendetektoren messen ja keine Wahrheit, sondern physiologische Erregung, wer aber fest an die eigene Unwahrheit glaubt, kann sie wahr wirken lassen.

Bei extremen Grenzverschiebungen zwischen Lüge und Irrtum, in Form einer gestörten Realitätsverarbeitung, wird  Münchhausen-Syndrom diagnostiert.

 

Bis hierhin kann man also festhalten:

  • Wahrheit und Lüge sind keine starren Gegenpole, sondern ineinanderfließende Zustände, wo oft Zwischentöne möglich sind (Verschweigen, nette Lüge, Irrtum, Teilwahrheit etc.)
  • Lüge ist immer vorsätzlich, ohne Vorsatz ist es ein Irrtum. Die beiden können sich zueinander aber auch fluide verhalten, vor allem, wenn die Lüge oft wiederholt wird.

 

Tiere, Täuschung und evolutionäre Intelligenz

Auch in der Tierwelt gibt es Formen von Täuschung. Rabenvögel "belügen" ihre Artgenossen, indem sie falsche Verstecke vortäuschen, wenn sie bemerken, dass sie beim Verstecken der Beute beobachtet werden. Der evolutionäre Vorteil liegt auf der Hand: Wer täuschen kann, schützt Ressourcen oder sichert Vorteile.

 

An der Stelle finde ich es wichtig, folgendes hizuzufügen: Selbst wenn wir zum Teil instinktgesteurent sind und uns durch unser Unbewusstsein leiten lassen, können wir trotzdem, gerade auch mit dem Blick auf die Tiere, eine Kosten-Nutzen-Funktion der Wahrheit-Lüge-Anteil-Optimierung vorschlagen. Unsere Gesellschaft ist durchritualisiert, die Lüge gehört zum Alltag, und nun versuchen wir uns ihr durch eine Formel anzunähern.

 

Davor aber noch eine Zäsur:

 

Zwischen Bewertung und Wahrheit

Wahrheit ist bei uns oft moralisch aufgeladen; wir wollen das Gute, das Richtige. Doch jede Wahrheit entsteht ja primär aus Bewertung: Ich sehe etwas, bewerte es als richtig oder falsch, und handle entweder im Einklang mit meiner Bewertung und sage die sogenannte Wahrheit oder ich handele dagegen, und was dabei rauskommt, ist eine Lüge. Beides ist dabei abhängig von meinem subjektiven Urteil, welcher auf ebenfalls subjektiven epistemischen Räumen basiert. Die Wahrheit ist also weder von vorn herein positiv aufgeladen, noch kann sie absolut sein. Sie ist eine der beiden möglichen Folgen von Perspektive, Kontext und Urteil. 

 

 

Wahrheit und Lüge sind also keine absoluten Pole. Sie sind ein Ausdruck eines komplexen Verhältnisses zwischen Überzeugung, Handlung und Kontext. Sie sind relationale Dynamiken in einem Netz aus epistemischen Räumen, psychologischen Mustern, sozialen Regeln und kulturellen Narrativen.

 

In Zeiten fragmentierter Öffentlichkeit und algorithmisch kuratierter Informationen wird es immer schwieriger, Wahrheit zu behaupten und immer wichtiger, die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu reflektieren.

 

Damit die Formel auch Ausdruck der Hoffnungslosigkeit bleibt (wir handeln eh nur egoistisch aus der eigenen Nutzenmaximierung heraus), lohnt sich ein Blick auf die Formel aus der Perspektive, wie man einen höheren Nutzen für die Wahrheit produzieren kann, wenn man denn diese Wahrheit auch wirklich hören möchte. 

 

Hier kommt's also, der erste Modellierungsversuch (der natürlich noch viel Luft nach oben hat):

 

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Wir haben Gott ermordet, aber die Kirche steht noch

Wir haben Gott ermordet, aber die Kirche steht noch.

 

Der Mann auf der Wolke ist verschwunden, und doch blieben die Dogmen zurück. Die Institutionen, die uns moralisch zügeln, sind nach wie vor da. Sie tragen eine andere Gewand, auch sie haben sich mit der Zeit gewandelt.

 

Blickt man zurück in die Geschichte, sieht man, dass jedes Zeitalter sein eigenes Leitdenken hatte.

 

Im antiken Griechenland zum Beispiel: Dort entstanden die ersten Demokratien, dort wurden die Anfänge der Philosophie und der Wissenschaft gelegt. Zugleich lebte aber auch das magische Denken weiter, die Mythen, die Götter, das Orakel von Delphi. Man konnte Astronomie betreiben und gleichzeitig an Zeus glauben. Wissenschaft und Mythos waren Geschwister, die im selben Haus lebten.

 

Springen wir einige Jahrhunderte nach vorne ins Mittelalter, wie man es halt so tut bei der Geschichtsbetrachtung. Hier herrschte ein Denken der Ähnlichkeiten. Walnüsse galten als heilsam für das Gehirn, weil sie ihm äußerlich ähnlich sahen. Die Natur war ein Buch voller Analogien, alles verwies aufeinander, alles war durchzogen von einem magischen Netz der Bedeutungen. So oben, wie unten sagte die blühende Alchemie. Die Kirche stand in dieser Welt wie eine übergroße Instanz, die nicht nur Glaubensfragen, sondern die gesamte moralische Ordnung prägte. Und selbst dort, wo Magie und Volksglauben das Denken bestimmten, wirkte im Hintergrund stets eine Instanz, die den Rahmen vorgab: Gott, die Kirche, das moralische Gesetz, das diese vereinzelten magischen Rituale unter eigenem Dach bündeln wollte. Deshalb haben wir noch so Dinge wie Ostereier, die Rituale, die aus dem Heidentum stammten, und die die Kirche unter seine strenge Obhut nahm.

 

Dann kam die Renaissance, und mit ihr die Rückkehr des Menschen ins Zentrum. Altgriechische Werte waren plötich wieder da. Künstler wie Leonardo da Vinci oder Philosophen wie Pico della Mirandola feierten die Würde des Menschen, seine Freiheit, seine schöpferische Kraft. In diesem Moment schien die Kirche fast wie eine Bremse, eine Macht, die das neue Selbstbewusstsein zügeln musste. Wo der Mensch sich zu sehr in seiner eigenen Größe gefiel, trat die Moralinstanz dazwischen und mahnte zur Demut.

 

Aber es geschah auch mal das Gegenteil: Wenn der Mensch durch Entdeckungen wie das Mikroskop oder das Teleskop an seine Kleinheit erinnert wurde, wenn er sich plötzlich in einem unermesslichen Kosmos verloren fühlte, brauchte es die Kirche kaum noch, um ihn zu zügeln. Interessanterweise war die Kirche dabei nicht immer nur Gegnerin der Wissenschaft. Gerade Jesuitenwissenschaftler förderten die Entwicklung und den Einsatz des Teleskops, und das Mikroskop wurde sogar als Mittel gefeiert, Gottes Schöpfung in ihrer Feinheit zu bewundern. In diesen Momenten genügte aber letztendlich die bloße Erfahrung der eigenen Winzigkeit, um den Menschen zurück auf den Boden der Tatsachen zu holen. Man könnte fast sagen: Das Verhältnis zwischen menschlicher Hybris und moralischer Instanz oszillierte. Ging es den Menschen zu gut, kam die Kirche, um sie kleinzuhalten. Fühlten sie sich zu klein, übernahm die Natur selbst diese Aufgabe, und die Kirche stand daneben und klopfte verständnisvoll an die Schulter.

 

Und heute? Wir leben in einer Welt, die auf den ersten Blick frei ist von diesen alten Dogmen. Gott ist tot, und die (vor allem christliche) Kirche hat an Macht verloren. Doch an ihre Stelle ist eine neue Instanz getreten: die Wissenschaft. Sie ist unser Leitdenken geworden, unsere neue Kirche. Ihre Methoden, Formeln und Prüfverfahren sind die moralischen Gebote unserer Zeit. Wer Fragen stellt, die nicht ins Raster passen, riskiert den Ausschluss. Man wird schnell in die Ecke der Esoterik gestellt, selbst wenn man nur vorsichtig darüber nachdenkt, ob es jenseits der mathematischen Modelle noch andere Formen der Epistemie geben könnte.

 

Das zeigt sich besonders in der akademischen Welt. Da sitzt heute ein Doktorand und ringt monatelang um ein Konzept, baut sorgfältig Fußnoten auf Fußnoten, überprüft jede Quelle, stellt sich die Frage, ob die eigenen Gedanken wohl legitim genug sind. Und aus der Vergangenheit winkt ein Philosoph des 18. Jahrhunderts, der in der Badewanne sitzt, über die Welt nachdenkt, seine Theorie hinschreibt und lakonisch erklärt: So funktioniert die Welt. Fight me, wenn du glaubst, es sei falsch. (Quelle: ein Meme von Grace Mallon)

 

Natürlich, die Strenge der Wissenschaft hat uns unermessliche Fortschritte gebracht. Niemand möchte in eine Zeit zurück, in der Blitze noch als Zorn des Donnergottes gedeutet wurden oder Krankheiten als Werk böser Geister. Wo der Pest mit Kräuterverbrennung vorgesorgt wurde statt mit funktionierendem Abwassersystem. Wo jede Geburt ein Todesrisiko darstellte und jede Reise auch. Und jeder Wasserschluck auch.

 

Aber wir sollten uns bewusst machen, dass auch die Wissenschaft ihre Dogmen lebt, ihre Kirche. Heute glauben wir nicht mehr an Zeus oder Teufel, sondern an Formel, Algorithmen und Simulationen. Die Sprache ist eine andere, aber die Funktion bleibt: Sie diszipliniert das Denken, sie grenzt das Sagbare vom Unsagbaren ab.

 

Wir fühlten uns immer kleiner in dieser durchtechnisierten Welt. Mit der Quantenphysik und der modernen Kosmologie merken wir dann aber plötzlich, dass wir doch nicht so viel verstehen, wie wir dachten. Teilchen, die zugleich Welle sind. Zustände, die erst durch Beobachtung Realität gewinnen. Universen, die vielleicht nur eines unter vielen sind. Das alles klingt beinahe mythisch. Als hätte uns die Wissenschaft an die Grenzen unseres Begreifens geführt, und plötzlich stehen wir wieder dort, wo wir auch im Mythos standen: vor einem Geheimnis, das größer ist als wir.

 

Gerade hier wäre es wichtig, die alten Denkmuster zu durchbrechen. Natürlich geht es nicht darum, deswegen in eine bodenlose Esoterik zurückzufallen. Aber darum, sich klarzumachen, dass jedes Zeitalter seine Kirche hat, sein Leitdenken und seine Disziplinierungsmechanismen.

 

Was wir heute brauchen, ist vielleicht eine neue Balance: eine Wissenschaft, die ihre eigenen Grenzen reflektiert, die nicht nur Formeln aufstellt und diese peer reviewt, sondern auch nach ihrem Sinn und Bedeutung sucht. Und eine Philosophie, die nicht nur in Fußnoten spricht, sondern auch den Mut hat, in der Badewanne eine Theorie der Welt zu wagen (und diese dann gerne mit Fußnoten versehen). Und eine Gesellschaft, die versteht, dass das Morden Gottes nicht das Ende der Kirchen war, sondern nur der Beginn einer neuen.

 

Ich frage mich dann immer: Was würde man rückwirkend über unsere Zeit wohl sagen, außer, dass wir ungeheure Waffen entwickelt haben und ungeheuer viele Kriege führen? Außer, dass wir kluge Computer und soziale Medien erschaffen haben, deren Wirkungen und Auswirkungen (vor allem auf die Kinder) wir kaum mehr nachvollziehen können? Wir reden in Formeln und vergessen, dass es (teils mehr, teils minder funktionierende) Modelle sind, aber keine absoluten Wahrheiten.

 

 

Wir haben Gott ermordet, ja. Aber die Kirche steht noch. Die Mauern haben andere Namen, die Priester tragen auch mal eine Jeans. Ob wir darin gefangen bleiben oder lernen, diese Mauer vorsichtig zu schleifen, bis sie durchsichtig werden, ohne dabei mit blinder Esoterik das ganze (in vielen Hinsichten gut funktionierende) Gebäude einzureißen, ist vielleicht die eigentliche Aufgabe unserer Zeit.

meta meditiert

Heute habe ich Meta-meditiert.

Oder Metta.

Je nachdem, wie man's aus dem Russischen übersetzen möchte.

Auf jeden Fall, über mich selbst hinausgehend.

 

Die ruhige Stimme in der Handyapp führte mich durch.

 

Wie auch immer das also hieß, im Metakontext war das Ziel einfach:

Über das ganze Selbst hinaus, nicht nur über den Körper

Hinausgehen und Gutes wünschen Allem um mich herum.

Der ganzen Welt. 
Wärme aussenden.
Gutes wünschen.

 

Wir tun das eigentlich seit Anbeginn der Zeit.

Gutes wünschen.
Zum Geburtstag, zur Hochzeit, zu Weihnachten.
Immer dann halt, wenn ein Ritual uns daran erinnert,
dass wir die Macht haben, einander Gutes zuzusprechen.

Wir glauben offenbar daran.

Sonst würden wir’s längst nicht mehr tun.

(Ich mein, allein schon das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeihung sagt's. Und der Placeboeffekt.)

 

Warum also so selten?
Warum nur zu Anlässen?
Vielleicht liegt in diesen kleinen kulturellen Gesten
mehr Wahrheit als in manchem Forschungspapier.

Wir nennen es heute Esoterik.
Wir lachen über alte Bräuche,
und doch spucken manche heimlich,
wenn eine schwarze Katze den Weg kreuzt.

 

Fast alle klirren die Gläser mit Blickkontakt
aus kollektiver Panik vor sieben Jahren schlechtem Sex.

In den Flugzeugen fehlt die dreizehnte Reihe.

So sehr verachten wir die Magie nicht,
wir tarnen sie nur.

 

Ein bisschen mehr Demut vor dem Unbekannten
würde uns vielleicht entlasten.
Nicht alles muss bewiesen werden,
nicht alles lässt sich statistisch zählen.
Vielleicht gibt es Dinge wie Synchronizität,
die sich gerade deshalb entziehen,
weil unsere Methoden darauf nicht getrimmt sind.

 

 

Meta-Meditation heißt dann:
die alte Kunst des Gut-Wünschens neu erinnern.
Und vielleicht einsehen,
dass wir nie ganz ohne Zauber leben können und wollen.

Libertärer Klimaschutz

Der Klimawandel ist, abgesehen von den überall aufflammenden Kriegen, die größte Herausforderung unserer Zeit. Wir reden viel darüber und haben wenig tragbare Lösungen. Dann heißt es, die Konsumgesellschaft ist schuld. Es beginnt mit gut gemeinten Ratschlägen: weniger fliegen, regional einkaufen, Plastik vermeiden. Klar, ist das sinnvoll, dass wir achtsamer konsumieren. Aber indivuelle Konsumentscheidungen reichen bei Weitem nicht. Denn die entscheidenden Hebel finden sich nicht im Supermarktregal oder Kleiderschrank, sondern in der Art, wie Wirtschaft und Politik funktionieren.

 

Viele Menschen würden gerne klimafreundlich leben. Aber Nachhaltigkeit ist oft teurer. Ein reparierbares Gerät kostet mehr als ein Wegwerfprodukt. Faire Kleidung oder ökologische Elektronik sind Luxus. Klimaschutz muss aber der einfachere und günstigere Weg werden, sonst bleibt er ein Projekt für Besserverdienende.

 

Eines der zentralen Probleme für übermäßigen Konsum ist die sogenannte geplante Obsoleszenz. Produkte gehen früh kaputt, Ersatzteile gibt es kaum, die neuen Updates machen Geräte langsamer. Das zwingt zum Neukauf.

 

Warum ist das überhaupt erlaubt? Warum dürfen Hersteller Geräte bauen, die nach wenigen Jahren Schrott sind? Warum ist Reparieren teurer als Wegwerfen?

 

Wir brauchen endlich neue Rahmenbedingungen. Nachhaltiges Verhalten soll sich lohnen. Steuervergünstigungen für langlebige Produkte. Förderprogramme für Reparaturbetriebe. Eine verpflichtende Ersatzteilverfügbarkeit von mindestens 15 Jahren. Klare Kennzeichnungen zur Lebensdauer, zum Beispiel so eine Skala wie bei den Nutrizionswerten. Ein Langlebigkeitslabel wäre auch ein guter Anfang. Auch modulare Bauweisen bei Elektronik wie Smartphones, die man selbst reparieren kann, sollten unterstützt werden. Oder Leasingmodelle, bei denen das Gerät im Besitz des Herstellers bleibt. Dann hätte der Hersteller endlich ein Interesse daran, dass es lange hält.

 

Trotzdem landet die Debatte oft in einer Sackgasse. Schuld sind angeblich „die Konsumenten“. Oder „die Politik“. Beide Aussagen sind bequem. Wer ist „die Politik“, wenn nicht wir als Gesellschaft? Wer sitzt in den Konzernen, wenn nicht Menschen, die auf Anreize reagieren? Das Problem liegt im System selbst.

 

Die Frage ist also nicht, wer schuld ist. Sondern: Wie gestalten wir Rahmenbedingungen, die klimafreundliches Handeln möglich machen? Ohne Zwang. Ohne Bevormundung. Und ohne moralischen Zeigefinger.

 

Wir haben gesehen, wozu Verbote führen. Jetzt haben wir reißende Papiertüten, für die massenweise Bäume gefällt werden. Gleichzeitig liegen neben dem Obst im Supermarkt weiter Plastiktüten. Und wir verwenden täglich Mülltüten, die überall frei erhältlich sind. Der Bahnhof-Edeka darf übrigens immer noch Plastiktüten an der Kasse ausgeben. Papiertüten gibt's da keine. Warum? Vielleicht, weil man nicht will, dass kaputte Papiertüten die Glasflaschen auf den Bahnsteig kugeln lassen und der ohnehin ständig verspäteten Deutschen Bahn auch noch den letzten Stoß versetzen. Nun ja, solche absurden Zustände zeigen, dass gut gemeinte Verbote oft schlecht gemacht sind. Papiertüten, die reißen, helfen niemandem. Und sie sind nicht zwangsläufig umweltfreundlicher.

 

Warum kein besseres System? Zum Beispiel ein Stofftaschen-Leasing. Für wenig Geld. Zurück ins Geschäft, waschen, wiederverwenden. Funktioniert bei Getränkekisten, warum nicht auch bei Einkaufstüten?

 

Es gab ja kreative Ideen wie essbare Strohhalme. Und nein, sie haben sich nicht ausschließlich wegen des EU-weiten-Verbots durchgesetzt. Es ist genau umgekehrt: Das Verbot kam als eine verzweifelte Reaktion, weil sie sich auf dem Markt nicht durchsetzen konnten. Die ersten klimafreundlichen Strohhalme waren übrigens ein totaler Schrott. Die waren nicht reif für den Markt, weil sie eben nicht mit Vorlauf gefördert wurden. Ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass sie sich durch Förderung und Peer Pressure allein problemlos auf der EU-Ebene durchsetzen würden. Dann wäre es auch positiver von den Konsumenten aufgenommen. Mir wird nichts weggenommen. Ich nehme an einem neuen spannenden Trend teil. Also, wenn wir mit ein Paar Marketingkniffen und Social Media Werbung an erwachsene Menschen überteuerte Plüschtiere verkaufen können (ja, Labubus sind gemeint), sehe ich nicht, warum das nicht auch mit klimafreundlichen Strohhalmen gegangen wäre.

 

Genau das wäre ja der richtige Hebel: Innovation fördern, statt auf Verzicht zu setzen. Und nicht immer warten, bis der Gesetzgeber eingreift. Gute Lösungen brauchen keine Vorschriften.

 

Das sehen wir auch beim Bio-Label. Es gibt definierte Grenzwerte für Schadstoffe aber eben keine Nulltoleranz. Und diese Grenzwerte werden ausgereizt. Weil sie da sind. Weil man genau weiß, wie weit man gehen darf. Das ist das Problem bei rein regulatorischen Systemen: Sie werden technisch erfüllt. Aber nur soweit es nötig ist.

 

Warum kein neues Label? Ein Super-Duper-Bio-Label, das auf Freiwilligkeit basiert. Höchste Standards, nahe Nulltoleranz, getragen von Produzenten, die zeigen wollen, was möglich ist. Bestärkt durch Peer Pressure. Und schon haben wir den Bio-Standard angehoben.

 

Kann man das wirklich ohne Regulierungen durchsetzen? Wird dann nicht jeder, der Lust hat, sich den neuen Label einfach so draufdrucken?

 

Hier lohnt sich ein Blick auf libertäre Ansätze. Die setzen nicht auf harte Verbote, sondern auf klare Eigentumsrechte, Transparenz und dezentrale Organisation. Kein autoritärer Staat, der alles reguliert. Aber auch keine Wildwest-Ökonomie. Ein faires Spielfeld im produktiven Dazwischen.

 

Natürlich muss die Lebensmittelindustrie immer überwacht werden. Ein libertärer Staat, von dem ich träume, ist kein anarchischer. Ich stehe für einen moderaten Minarchismus. Ein Staat, der die Grundsicherung, Sicherheit, Gesundheit, Eigentumsrechte und Transparenz für die Interaktionen garantiert.

 

Ein Beispiel aber, wie es konkret funktionieren könnte: Die Atmosphäre gehört niemandem. Deshalb kann jeder CO₂ ausstoßen, ohne zu zahlen. Was, wenn ab jetzt jeder, der CO₂ in die Luft bläst, an die Allgemeinheit zahlen müsste? Diese Einnahmen wären dann auch tatsächlich an die einzelnen Menschen ausgeschüttet. So ähnlich funktioniert zum Beispiel bereits seit Jahren die Alaska Permanent Fund Dividend. 

 

 

Ein weiteres Element des libertären Staates: dezentrale Kooperation. Lokale Energiegemeinschaften. Herstellerkonsortien mit transparenten Standards. Genossenschaften, die auf langlebige Produkte setzen. Keine globale Bürokratie. Alles freiwillige Zusammenschlüsse.

 

Und, ganz wichtig: Transparenz. Wenn Produkte offen gekennzeichnet wären: wie langlebig, wie reparierbar, wie umweltschädlich sie sind, entschieden Käufer informierter. Alleine das würde sich positiv Auswirken. Wir fahren ja auch langsamer, wenn uns ein böser Smiley in der 30er Zone von der digitalen Taffel entgegenstarrt.

 

Dafür bräuchte es Umweltfonds oder öffentliche Plattformen mit Bürgerbeteiligung. Transparenz ist hier entscheidend. Einnahmen und Ausgaben müssen für alle nachvollziehbar sein. Die Ausschüttung kann technisch automatisiert erfolgen, ähnlich wie bei Dividendenmodellen. Kontrolle erfolgt natürlich nicht allein über Peer Pressure. Noch zuverlässiger: Man könnte sie im System selbst verankern, zum Beispiel durch Blockchain-Technologie. Smart Contracts und transparente, manipulationssichere Transaktionen würden es ermöglichen, CO₂-Zahlungen nachvollziehbar zu machen, ohne dass man einer zentralen Autorität blind vertrauen muss. Man könnte beispielsweise ein öffentlich einsehbares, digitales CO₂-Konto pro Unternehmen oder Produkt einführen, in dem genau erfasst wird, wie viele Emissionen verursacht wurden und wie viel dafür bezahlt wurde. Einmal gespeichert, kann das niemand mehr nachträglich verändern.

 

Und für die Beitragserechnung und Auszahlung an die Bürger könnte man sogenannte Zero-Knowledge-Proofs verwenden. Das ist eine Methode aus der Kryptografie, bei der jemand nachweisen kann, dass er etwas besitzt, macht oder weiß, ohne den Inhalt selbst offenzulegen. Also zum Beispiel: Ein System kann bestätigen, dass ein Unternehmen seinen CO₂-Ausgleich korrekt geleistet hat, ohne dass es seine kompletten Betriebsdaten offenlegen muss. Genauso wären die Auszahlungen an einzelne Bürger überprüft. Vertrauen entsteht hier nicht durch Autorität, sondern durch mathematisch abgesicherte Strukturen. Genau das wäre die nächste Entwicklungsstufe für ein glaubwürdiges, dezentrales Nachhaltigkeitssystem. Die Blockchaintechnologie würde das heute noch nicht auf ein Schlag leisten können, aber ihre Entwicklung ist rasant und nicht zu unterschätzen.

 

Umso absurder wirkt es, dass wir Technologien wie Quantencomputing, Blockchain oder Zero-Knowledge-Proofs einfach den Lobbys überlassen. Warum nicht die technologische Avantgarde für eine libertäre Infrastruktur nutzen, die Menschen unabhängiger macht? Statt digitale Kontrollwerkzeuge in Konzernen oder Ministerien zu verankern, könnten wir sie in offenen, dezentralen Netzwerken einsetzen, um genau das zu erreichen, worüber alle reden: Nachhaltigkeit mit echter Transparenz und Mitgestaltung der Zukunft.

 

Heute verlassen wir uns auf staatliche Produktlabels und zentrale Kontrollinstanzen. Aber jeder weiß, wie fehleranfällig das ist. Wie schnell es Einflussnahmen gibt, wie viel Lobbyismus dahintersteckt. Selbst streng regulierte Branchen wie Ernährung oder Pharma sind nicht frei von Interessen und Einfluss. Wer also glaubt, staatliche Kontrolle sei per se neutral, vergisst die Realität politischer Machtkämpfe. 

 

Dass Einflussnahme real ist, sehen wir auch an ganz anderen Beispielen. E-Zigaretten gibt es seit über 20 Jahren. Es gibt mittlerweile Millionen Dampfer, bei denen man Langzeitbeobachtungen machen könnte. Klar, wir wissen noch nicht alles. Aber wir wissen mit ziemlicher Sicherheit: Sie sind weniger schädlich als herkömmliche Zigaretten. Trotzdem erscheinen immer wieder Artikel, die das Gegenteil behaupten. Immer wieder tauchen Behauptungen auf, sie seien „schlimmer als Tabak“. Ich höre es ständig in den Raucherecken. Warum so? Weil die Tabaklobby mächtig ist. Weil ein neuer Markt etablierte Interessen stört. Weil jede Regulierung auch dafür genutzt wird, um Innovation zu behindern. Um eigenen Lobby-Arsch zu retten. Das ist kein Zufall. Das ist System.

 

Deshalb braucht es neue Systeme. Systeme, in denen Informationen nicht durch Marketing-Abteilungen gefiltert werden, sondern durch überprüfbare Prozesse. Systeme, die nicht mehr verlangen, jemandem blind zu glauben. 

 

Ein weiteres nicht zu unterschätzendes Steuerungselement ist sozialer Druck. Wer Umwelt und Gesellschaft schädigt, verliert Kunden, Investoren, Mitarbeitende. Wer fair wirtschaftet, gewinnt an Vertrauen. So funktioniert die Peer Pressure.

 

Was viele zudem unterschätzen: Menschen verhalten sich kooperativer, wenn sie wissen, dass andere hinschauen. Das ist keine naive Hoffnung, sondern gut belegt.

 

Zum Beispiel das Experiment von Andreoni und Petrie: Teilnehmer eines Public-Goods-Games sollten Geld spenden – entweder anonym oder öffentlich. In der öffentlichen Variante stiegen die Spenden um rund 50 Prozent. Warum? Weil soziale Anerkennung zählt. Menschen geben nicht nur aus Altruismus. Sondern auch, um gut dazustehen. Ein anderes Beispiel: Bateson, Nettle und Roberts führten ein Experiment in einer Teeküche durch. Dort wurde um freiwillige Beiträge für Kaffee gebeten. In manchen Wochen hing ein Poster mit Blumen über der Kasse, in anderen Wochen ein Poster mit Augenpaaren. Das Ergebnis: In den Wochen mit dem Augenposter wurde fast doppelt so viel gezahlt. Der Eindruck, beobachtet zu werden, erhöhte das kooperative Verhalten signifikant.

 

Fehr und Fischbacher zeigten ebenfalls: Kooperation nimmt deutlich ab, wenn Menschen anonym handeln können. In offenen, beobachtbaren Situationen dagegen stieg die Kooperationsrate je nach Szenario um 20 bis 60 Prozent.

Auch bei Auktionen für wohltätige Zwecke zeigte sich: Wenn Gebote öffentlich gemacht wurden, stieg die Spendenhöhe messbar. Feldman und Price fanden heraus: soziale Sichtbarkeit ist ein entscheidender Anreiz. Die Menschen wollten nicht nur das Objekt ersteigern. Sie wollten auch sozial gut dastehen.

 

Was heißt das für den libertären Klimaschutz? Menschen sind soziale Wesen. Und sie handeln großzügiger, wenn sie sich als Teil einer Gemeinschaft erleben. Wenn ihr Handeln sichtbar ist. Wenn es Resonanz gibt. Ein System, das diese sozialen Rückkopplungen aktiviert, braucht weniger staatliche Kontrolle. Es funktioniert aus sich heraus.

 

Natürlich ist das kein perfektes System vom ersten Tag an. Es gibt keinen garantierten Über-Nacht-Erfolg. Aber es gibt eine Dynamik, die funktioniert. Und sie ist offen für Korrektur. Fehler passieren. Aber sie werden schneller sichtbar. Sie werden diskutiert. Und sie werden durch soziale Reaktion oft korrigiert.

 

#MeToo ist ein Beispiel. Kein Gesetz hat es ausgelöst. Es war öffentlicher Druck. Und es hat Wirkung gezeigt. Natürlich gab es dann im späteren Verlauf welche, die es auch ausgenutzt haben. Aber auch das wurde sichtbar und die Debatte wurde weiterentwickelt.

 

Was wir also brauchen, ist kein blinder Glaube an das Gute im Menschen. Sondern Strukturen, die gutes Handeln belohnen. Schlechte Entscheidungen unattraktiv machen. Märkte ehrlich machen.

 

Ein echter Markt heißt: Wer Ressourcen verbraucht, zahlt dafür. Wer dem Gemeinwohl dient, profitiert davon. Wer Verantwortung übernimmt, wird sichtbar belohnt. Dann braucht es keine zentrale Regulierung. Dann entsteht Dynamik von unten. Klimaschutz wird so kein Zwangsprojekt., sondern eine einzige logische Folge. Kein Moralisieren. Kein Verbieten. Das heißt jetzt Ermöglichen. Und das ist keine PR-Hülse. Das wäre wirklich so.

 

Libertarismus bedeutet nicht, alles zu dürfen. Es heißt, die Folgen des eigenen Handelns zu tragen. Wer glaubt, man könne einfach weiterwursteln wie bisher, hat den Ernst der Lage nicht verstanden.

 

Der Klimawandel ist zu groß für Schuldzuweisungen. Aber nicht zu groß für eine Gesellschaft, die bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Wenn man sie lässt.

Der Schatten im Bild

Warum fiebern wir mit, obwohl wir es besser wissen? Warum ist selbst die schärfste Analyse gegen eine schnulzige Hollywood-Szene voller Pathos, mit dieser einen Melodie im richtigen Moment, einfach machtlos?

 

Es geht um den Schatten. Und zwar um den kollektiven Schatten.

 

Identifikation ist ein Reflex

 

Wenn wir Geschichten konsumieren, folgen wir einem tiefenpsychologischen Automatismus: Wir identifizieren uns.
Mit dem Helden. Mit dem Rebellen. Mit dem Opfer. Mit dem Antihelden.


Wir gehen mit. Wir leiden mit. Wir hoffen. Wir hassen.

Wir wollen, dass dieser gewinnt und dieser verliert. Obwohl wir wissen, dass das alles Fiktion ist.

Obwohl wir vielleicht intellektuell verstehen, dass Moral nicht so einfach ist.
Trotzdem fiebern wir mit.

 

Das ist kein Fehler. Es ist ein archetypisches Muster. Jung würde sagen: Der Archetyp agiert durch uns. Wir leben ihn, nicht umgekehrt. Die kulturellen Formen, die uns bewegen, sind voller kollektiver Bilder: der Held, der Märtyrer, der Verräter, die göttliche Mutter, der trickreiche Narr, das dunkle Spiegelbild.
Diese Muster sind älter als jeder Einzelne von uns und stärker als unser Wille.

 

Verführung durch Form

 

Aber das Problem ist nicht nur der Inhalt. Es ist die Form selbst, die diese Muster trägt.
Ein epischer Soundtrack. Eine Großaufnahme in Zeitlupe. Ein tragischer Monolog.
Die Form erzeugt eine emotionale Ordnung, in der der Inhalt beinahe beliebig wird.
Wir fühlen, bevor wir denken. Wir fiebern mit noch bevor wir wissen, ob wir das überhaupt wollen.

 

C. G. Jung verstand Archetypen nicht einfach als kulturell geformte Muster, sondern als universelle, kollektive Strukturbedingungen des psychischen, größtenteils un- oder unterbewussten Erlebens, ähnlich einem apriorischen Rahmen, der nicht durch Erfahrung entsteht, sondern Erfahrung überhaupt erst ermöglicht. Die Archetypen sind also weder erlernt, noch kulturell tradiert oder epigenetisch entwickelt, sondern ursprünglich vorhanden. Jung entwickelte diese Theorie aus der empirischen Arbeit mit Träumen, Mythen und Symbolen, ging also induktiv vor, und kam doch zu einer als notwendig gesehenen Struktur, die allen Menschen gemeinsam sein soll. Archetypen wie der Held oder der Schatten sind für ihn keine Inhalte, sondern formgebende Prinzipien, die unbewusst wirken und das Denken, Fühlen und Handeln ordnen, lange bevor wir ihnen Bedeutung geben.

 

 

Und genau hier wird es gefährlich:
Denn was, wenn das Mitfiebern selbst Teil des Problems ist?
Was, wenn wir unbewusst immer wieder denselben Schattenfiguren folgen?

 

Diese Form von Identifikation, also das Andocken an die Archetypen, formt unser Empfinden von Gut und Böse, von Heldentum, von Gerechtigkeit. Wenn ich mir etwa Herr der Ringe heute, in Kriegszeiten, noch einmal anschaue, zieht sich in mir alles zusammen. Die epische Wucht des Films, die musikalische Überhöhung, die Lichtverhältnisse – alles ordnet sich einem mythischen Heldennarrativ unter, das kaum noch hinterfragt werden kann. Die „Guten“ sind mutig, schön, nahezu unverwundbar; auf dem Schlachtfeld sterben fast nur Nebendarsteller. Die „Bösen“ hingegen sind entmenschlicht, verzerrt, zu Schattenwesen gemacht. Sie verlieren immer, auch wenn es kurz zwecks Spannung kippt, am Ende verlieren sie. Sie haben keine Geschichte, kein Innenleben, keine Widersprüche. 

 

Diese Art der Darstellung ist nicht einfach Fiktion, sie ist emotionale Konditionierung. Wer solche Narrative konsumiert, besonders im großen Stil, mit starker Musik und visueller Fülle, übernimmt oft unbewusst das Muster: Wir hier, die Guten. Dort, das Dunkle, das Böse. Es ist ein Muster, das sich leicht übertragen lässt: auf reale Feindbilder, auf politische Propaganda, auf Kriegsrhetorik. Und es ist immer wieder wirksam. Gerade weil es so schön in Szene gesetzt ist. 

 

Zudem wird der Krieg als ein Abenteuer inszeniert, in dem die Guten immer gewinnen. Gerechtigkeit immer siegt. Das ist nicht immer der Fall. Leider. Selbst wenn wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen oder das zumindest glauben, ist der Krieg kein Abenteuer. Es ist verdammt nochmal eine Schlacht. Ein Menschenleiden. Es darf nicht romantisiert werden. Es dürfen keine falschen Erwartungen an tapfere Heldentaten geweckt werden. Das ist brandgefährlich, vor allem bei jüngeren Zuschauern.

 

 

Brecht wusste es. Und (SPOILER!) scheiterte daran.

 

Bertolt Brecht versuchte, diesen Automatismus zu durchbrechen.
Sein berühmter Verfremdungseffekt sollte die Identifikation stören.
Das Publikum sollte nicht mehr mitfühlen, sondern mitdenken.

Der Schauspieler sollte zeigen, dass er spielt, statt in der Figur zu verschwinden. Dazu kamen noch viele andere Ideen, wie z. B. das Ende der Geschichte gleich zu Beginn zu spoilern, um die Spannung rauszunehmen, damit das Publikum dann darüber mitdenkt, wie es sich dahin entwickelt hat, statt sich zu fragen, wie es wohl weitergeht. Oder offene Kulissen mit roten Vorhängen als Teil des Bühnenbilds, damit bloß keiner vergisst, dass wir hier die ganze Zeit im Theater sitzen.


Das Vorhaben war alles in allem äußerst spannend. Aber: Die Form blieb Theater.

Dann fühlten wir halt mit den Schauspieler-Ichs hinter den Figuren mit, auch wenn es nicht intendiert war, einfach weil jeder Darsteller, sobald er Bühne betritt, automatisch zu einer Figur, seinem sogenannten Schauspieler-Ich wird, ob er's will oder nicht.

Und wir suchen so sehnsüchtig nach einem Mitfieberlackmusblatt, da hilft auch kein Vorhang.

Der Schatten bleibt.

 

Der Archetyp lässt sich nicht verbannen. Nur erkennen.

 

Wir leben eben in einer Kultur, die auf Identifikation aufgebaut ist. Und diese wird fast schon autopoetisch immer weiter befeuert. Streaming-Algorithmen, Marketingkampagnen, politische Rhetorik, TikTok-Reels, das alles funktioniert heute über Narrative.

Über das passende Storytelling.

Über das Gefühl: Ja, das bin ich.

Das verstehe ich.

Das berührt mich.


Und jedes dieser Narrative speist sich aus den Archetypen.

Das bedeutet: Wir leben nicht einfach in einer Kultur der Geschichten, wir leben in einer Kultur des kollektiven Wiederholens. Die ewigen Urbilder: Held, Mutter, Opfer, Racheengel, Erlöser, Verräter, laufen immer weiter. Nur schneller. Bunter. Kürzer. Oberflächlicher.

 

Gibt es Auswege? 

 

Einige wenige surrealistische Filme, einige wenige Installationen, einige wenige Formen des immersiven Theaters, bestimmte Literatur.

Sie verweigern sich bewusst der einfachen Identifikation.
Sie lassen Fragen offen. Sie zeigen Schmerz ohne Erlösung. 
Sie geben dem Schatten Raum, ohne ihn zu glorifizieren.

Aber diese Werke erreichen selten den Massenmarkt.
Denn der Massenmarkt verlangt Kohärenz.
Eine klare Hauptfigur. Eine Katharsis. Einen erzählbaren Sinn.

 

Den Schatten sichtbar machen, ohne ihn zu vertreiben.

 

Vielleicht können wir lernen, Geschichten zu erzählen, in denen die Identifikationsmöglichkeit durchsichtig bleibt. In denen wir mitfiebern und zugleich spüren, dass etwas nicht stimmt. In denen wir emotional eintauchen und zugleich etwas in uns fragt: Warum berührt mich das gerade so sehr? Was ist mein Anteil daran?

 

Und wenn es nicht funktioniert?

Dann wissen wir es wenigstens.

 

Vielleicht gibt es auch gar keine Lösung.
Vielleicht wird Kultur immer mit dem Schatten spielen, weil er dazugehört.
Aber wenn wir ihn sehen und benennen können, ist das schon mal ein Anfang.

 

Was ist Freiheit?

 

Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?

Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten.

Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen,

es bleibet dabei: die Gedanken sind frei.

 

Und sperrt man mich ein im finsteren Kerker,

das alles sind rein vergebliche Werke.

Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken

und Mauern entzwei: die Gedanken sind frei.

 

 

Was ist aber jetzt die Freiheit? Was genau ist damit gemeint?

 

Vielleicht liegt genau darin das Problem, wenn wir um Freiheit streiten: Dass wir mit dem Wort Freiheit etwas benennen wollen, das uns selbst nicht ganz klar ist. Ist es ein Gefühl? Oder ein Zustand? Eine Struktur? Eine Forderung? 

 

 

Beginnen wir erstmal mit Kant. Kants Freiheitsbegriff ist kein Tun, was man will. Freiheit ist bei ihm die Autonomie des Willens, die Fähigkeit, sich selbst moralische Gesetze zu geben. Es ist eine Freiheit, die nicht bloße Willkür ist, sondern vernünftige Selbstgesetzgebung. Isaiah Berlin hat daraus später zwei Begriffe gebildet: Freiheit von (Freiheit von inneren und äußeren Zwängen) und Freiheit zu (Freiheit zu einem selbstbestimmten Handeln).

 

Was meinen wir also, wenn wir von Freiheit reden: das von oder das zu? Viktor Frankl, Psychiater und Holocaust-Überlebender, schreibt: „Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.“ Dei Freiheit der Gedanken, die man keinem nehmen kann. Vielleicht ist das schon der erste Schlüssel: Die Freiheit beginnt nicht im äußeren Handeln, sondern im inneren Erleben.

 

Dann schauen wir da etwas tiefer in unser Inneres hinein. Was sagt die Neurowissenschaft? Benjamin Libet hat gezeigt, dass unser Gehirn schon 500 Millisekunden vor dem bewussten Entschluss in Richtung Handlung aktiv wird. Wir tun also, bevor wir denken. Heißt das jetzt, wir sind unfrei? Nicht unbedingt. Philosophen wie Daniel Dennett und Alfred Mele sprechen vom Vetorecht, davon, dass wir zwar Impulse empfangen, aber dennoch entscheiden können, ob wir ihnen folgen. Es gibt auch einen Moment, wo wir die zu ausführende Handlung last minute unterdrucken können. Vielleicht ist es genau dieses Innehalten, dieser Moment zwischen Impuls und Handlung, in dem Freiheit wohnt?

 

Was passiert aber bei diesem Innehalten, wenn andere dabei sind? Nun ja, auch die Sozialpsychologie kennt die Grenzen der Freiheit. Im berühmten Asch-Experiment gaben Versuchspersonen wissentlich falsche Antworten, nur weil die Gruppe es tat. Wir sind soziale Wesen. Unsere Prägungen, unser Milieu, unsere Herkunft beeinflussen uns tief. Sind wir also doch unfrei?

 

Es gibt Menschen, die über sich hinauswachsen. Die ihre Entscheidungsmaschine umprogrammieren, wie Harry Frankfurt es nennt. Er unterscheidet zwischen Freiheit erster Ordnung (tun können) und zweiter Ordnung (reflektieren, was man tun will). Diese zweite Ordnung, das Wollen des Wollens, ist vielleicht das, was Freiheit im eigentlichen Sinn meint. Sie ist nach Frankfurt nur den Menschen vorbehalten. Wir können z. B. Japanisch lernen, und damit erweitert sich unser Horizont. Dann könnten wir nach Japan reisen, japanische Bücher im Original lesen und so weiter. Diese neue Freiheit hätten wir nicht ohne dass wir unsere Entscheidungsmaschine umprogrammiert oder besser gesagt geupgradet hätten.

 

Schön und gut, wir haben also Japanisch gelernt und freuen uns des Lebens, durch Tokios Straßen schlendernd. Was aber, wenn das sowieso genau so und nicht anders kommen musste? Was, wenn das ganze Universum determiniert ist? Wenn alle Teilchen ihren Weg schon kennen, inklusive jeder einzelnen Synapse unserer Gehirne? Dann könnte der Laplacesche Dämon, ein Konzept eines allwissenden Wesens, das ganze Universum bis auf das letzte Neutrino begreifen und vorhersagen.

 

Und doch: Wenn wir es nicht wissen oder merken können, dass alles determiniert ist, spielt es dann eine Rolle? Nick Bostroms Simulationstheorie stellt dieselbe Frage. Was, wenn wir in einer Simulation leben, einer Art Matrix, was dann? Die Antwort vieler Philosophen, und denen schließe ich mich gerne an: Auch wenn alles vorbestimmt ist, macht es einen Unterschied, dass wir es erleben, als ob es nicht so wäre. Wenn wir also die Matrix nicht wahrnehmen können, sind wir genauso frei in unserem Als-Ob.

 

Abgesehen davon ist es aus ethischer Sicht, meiner Meinung nach, nur vertretbar, so zu handeln, als wären wir frei. Denn ohne Freiheit gibt es keine Verantwortung. Und in einer Welt ohne Verantwortung wollen wir nicht leben. Wenn die Welt also vollständig determiniert ist und wir gütig handeln, dann war dieses Handeln ohnehin unvermeidlich, es hätte nicht anders kommen können. Ist die Welt jedoch nicht determiniert, sondern erlaubt echte Entscheidungen, und wir handeln dennoch gütig, dann haben wir uns moralisch richtig verhalten. In beiden Fällen sollten wir uns für das Gute entscheiden, auch es wenn nur im zweiten Fall auf unsere Entscheidung wirklich ankomt. Es ist aus ethischer Vorsicht klüger, von Freiheit auszugehen, schon allein wegen der Möglichkeit, dass sie real sein könnte.

 

Und dann ist da noch die Quantenphysik, die ziemlich viele Dinge real macht. Auf subatomarer Ebene gibt es keine festen Bahnen. Das sind alles nur Wahrscheinlichkeiten. Da würde auch der Laplacesche Dämon abwinken und sich eine Tüte Popcorn holen. Roger Penrose spekuliert sogar, ob diese subatomare Offenheit mit unserem Bewusstseinsempfinden zu tun haben könnte, was wir alleine durch die Neuronenverknüpfungen seit Jahren nicht erklärt bekommen. Und wenn dann also unser Bewusstsein zu den ebenfalls bewussten Handlungen führt, dann wäre das doch schon die Freiheit, oder nicht? Vielleicht ist Freiheit also nicht die absolute Willkür, sondern die Fähigkeit, innerhalb eines Wahrscheinlichkeitsfeldes so aber auch anders zu handeln, als erwartet. Vielleicht ist sie, zumindest im rebellischen Sinne, genau das: die Entscheidung gegen die eigene Statistik.

 

Wir sagen ja oft: Ich habe mir die Freiheit genommen. Meist meinen wir damit den Mut, etwas zu tun, was nicht selbstverständlich war. Gerade dort, wo Freiheit fehlt, entsteht der tiefste Freiheitsakt. Wer in einer Diktatur aufbegehrt, nimmt sich etwas, das ihm nicht gewährt wurde. Diese Freiheit ist eine Grenzüberschreitung und zugleich auch ein moralischer Anspruch. Vielleicht ist das der wahre Ort der Freiheit: nicht im Erlaubten, sondern genau da, wo es nicht von selbst geht, im Gewagten, im Rebellischen?

 

Ist jede Grenzüberschreitung dann auch schon Freiheit? Wenn jemand stiehlt, sagen wir ja nicht: Er hat sich die Freiheit genommen. Wir verstehen unter Freiheit also stillschweigend auch Verantwortung. Die Freiheit des einen endet dort, wo die des anderen beginnt. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn manchmal, wie bei Robin Hood, überschreitet jemand die Grenze der anderen, der Gerechtigkeits willen. Robin Hood nimmt den Reichen also ihre Freiheit, ihr Eigentum zu behalten. Und doch feiern wir ihn. Weil wir das moralische Recht dieser reichen Unterdrucker auf ihr Eigentum in Frage stellen.

 

Die Freiheit ist also auch relational. Sie bewegt sich zwischen Eigenem und Anderem. Zwischen System und Empfinden. Zwischen Gesetz und Gefühl. Und damit kommen wir zur Sprache.

 

Wenn wir Freiheit sagen, meinen wir oft Unterschiedliches. Manchmal meinen wir Möglichkeiten, manchmal Rechte, manchmal Emotionen.

 

Wir könnten uns eigentlich viel präziser ausdrucken.

Statt pauschal von Freiheit zu sprechen, könnten wir auch sagen:

  • Ich habe die Möglichkeit, zwischen Optionen zu wählen. 

  • Ich bin unabhängig von äußeren Zwängen.

  • Ich handle autonom, also nach eigenen Prinzipien. 

  • Ich fordere Gerechtigkeit, wenn mir Handlungsspielräume verwehrt werden.

Und doch bleibt etwas zurück, wenn wir das Wort Freiheit aus unserem Vokabular streichen. Denn was keiner dieser Begriffe ausdrückt, ist das Erlebnis. Die Qualia.

 

Der Moment, in dem ich spüre: Ich kann. Ich muss nicht, aber ich kann. Oder ich muss anders, und ich kann trotzdem.

 

Freiheit ist das Wort für deises Offene, Unbestimmte, Begehrte. Wie wenn der Wind durch die Haare saust, wenn ich in einem Boot an Venedigskünste vorbeiflitze. Wenn ich auf der Demo das Mikro in die Hand nehme und in die Menge blicke. Wenn ich in die tiefe Nacht oder das frühe Morgen aufbreche, einfach so ohne Sinn und Zweck. Für diesen Moment zwischen Angst und Mut. Zwischen Anpassung und Aufbruch. Nur dieser eine Moment, dieses Gefühl, diese Momentaufnahme eben. Ein stilles Frame, nur die Haare sausen. Sonst ist alles still oder in Slow-Mo.

 

Wenn wir aber einen Zustand der Handlung beschreiben wollen, der diesem Gefühl der Freiheit dann enspringt, beziehungsweise auf ihn folgt, brauchen wir ein anders, neues Wort. Wie Wahlmut als bewusste, verantwortliche Entscheidung gegen das Erwartbare. Als eine Handlung im Angesicht von Risiko und Verantwortung. Als Austarieren moralischer Räume. Mutig, aber nicht leichtsinnig. Möglich, aber nicht beliebig.

 

Wenn wir also diese beiden Begriffe trennen, könnten wir der Freiheit ein neues Zuhause geben: nicht als politischer Grundwert oder vager Rechtsbegriff, wo wir alle nicht wirklich wissen, wovon wir da reden, sondern als Qualia, als menschliches Erleben. Ein Gefühl, wie Freude oder Trauer. Und so gesehen, ist die Freiheit nicht das Ziel, sondern der Raum, in dem Ziele und Entscheidungen erst entstehen.