Ich habe lange gezögert, ob ich all diese Texte, die hier wohnen, für ein Buch aufbewahren und sie erst dann als Tinte auf Papier in die Welt schicken sollte. Ich merkte aber nach einem Dreivierteljahr Arbeit, dass das Schreiben für mich kein Akt des Perfektionsanstrebens ist, sondern ein ständiges Weiterspinnen von Ideen, ein Nachdenken im Dialog. So wie es Sprechdenken gibt, so sehe ich das öffentliche Schreiben als Sprechschreiben; ein Handeln im Sinne Hannah Arendts, ein Rausgehen und ein ungeplantes In-Den-Dialog treten, ein Existieren in der Interaktion mit anderen Menschen; vielleicht ab jetzt auch mit dir?
Warum Punktkomma? Weil ein Gedanke den nächsten gebiert. Weil er für sich stehen bleiben, aber auch weitergeführt werden kann. Weil mehr Dinge eine Aufzählung bilden können, als uns lieb wäre.
Hier wird es keine klare Trennung zwischen Persönlichem und Theoretischem geben; manche Texte werden philosophisch sein; andere essayistisch oder autobiografisch; manche politisch, aus der oppositionell-russischen Perspektive; viele tagesaktuell.
Ich weiß noch nicht, was bleibt und was vergeht; ich möchte einfach schreiben. Kommst du mit?
Diese Geschichten sind alle wahr. So wahr, wie unsere Erinnerungen. Mit einer Prise Wunschdenken, zwei Löffeln Verdrängung, ein paar Retuschen durch die selektive Wahrnehmung und einem Blickwinkelspagat zwischen Nächstenliebe und Narzissmus. Hier und da durch die Erinnerungslücken radiert und frei nach Form nachgezeichnet. Und im Sinne der Kunstfreiheit stellenweise etwas überzogen. So wie du es auch aus den Tischgesprächen kennst.
(oder sowas in der Art, was da auch Netflix immer schreibt, damit du nicht abspringst)
Der Klimawandel ist, abgesehen von den überall aufflammenden Kriegen, die größte Herausforderung unserer Zeit. Wir reden viel darüber und haben wenig tragbare Lösungen. Dann heißt es, die Konsumgesellschaft ist schuld. Es beginnt mit gut gemeinten Ratschlägen: weniger fliegen, regional einkaufen, Plastik vermeiden. Klar, ist das sinnvoll, dass wir achtsamer konsumieren. Aber indivuelle Konsumentscheidungen reichen bei Weitem nicht. Denn die entscheidenden Hebel finden sich nicht im Supermarktregal oder Kleiderschrank, sondern in der Art, wie Wirtschaft und Politik funktionieren.
Viele Menschen würden gerne klimafreundlich leben. Aber Nachhaltigkeit ist oft teurer. Ein reparierbares Gerät kostet mehr als ein Wegwerfprodukt. Faire Kleidung oder ökologische Elektronik sind Luxus. Klimaschutz muss aber der einfachere und günstigere Weg werden, sonst bleibt er ein Projekt für Besserverdienende.
Eines der zentralen Probleme für übermäßigen Konsum ist die sogenannte geplante Obsoleszenz. Produkte gehen früh kaputt, Ersatzteile gibt es kaum, die neuen Updates machen Geräte langsamer. Das zwingt zum Neukauf.
Warum ist das überhaupt erlaubt? Warum dürfen Hersteller Geräte bauen, die nach wenigen Jahren Schrott sind? Warum ist Reparieren teurer als Wegwerfen?
Wir brauchen endlich neue Rahmenbedingungen. Nachhaltiges Verhalten soll sich lohnen. Steuervergünstigungen für langlebige Produkte. Förderprogramme für Reparaturbetriebe. Eine verpflichtende Ersatzteilverfügbarkeit von mindestens 15 Jahren. Klare Kennzeichnungen zur Lebensdauer, zum Beispiel so eine Skala wie bei den Nutrizionswerten. Ein Langlebigkeitslabel wäre auch ein guter Anfang. Auch modulare Bauweisen bei Elektronik wie Smartphones, die man selbst reparieren kann, sollten unterstützt werden. Oder Leasingmodelle, bei denen das Gerät im Besitz des Herstellers bleibt. Dann hätte der Hersteller endlich ein Interesse daran, dass es lange hält.
Trotzdem landet die Debatte oft in einer Sackgasse. Schuld sind angeblich „die Konsumenten“. Oder „die Politik“. Beide Aussagen sind bequem. Wer ist „die Politik“, wenn nicht wir als Gesellschaft? Wer sitzt in den Konzernen, wenn nicht Menschen, die auf Anreize reagieren? Das Problem liegt im System selbst.
Die Frage ist also nicht, wer schuld ist. Sondern: Wie gestalten wir Rahmenbedingungen, die klimafreundliches Handeln möglich machen? Ohne Zwang. Ohne Bevormundung. Und ohne moralischen Zeigefinger.
Wir haben gesehen, wozu Verbote führen. Jetzt haben wir reißende Papiertüten, für die massenweise Bäume gefällt werden. Gleichzeitig liegen neben dem Obst im Supermarkt weiter Plastiktüten. Und wir verwenden täglich Mülltüten, die überall frei erhältlich sind. Der Bahnhof-Edeka darf übrigens immer noch Plastiktüten an der Kasse ausgeben. Papiertüten gibt's da keine. Warum? Vielleicht, weil man nicht will, dass kaputte Papiertüten die Glasflaschen auf den Bahnsteig kugeln lassen und der ohnehin ständig verspäteten Deutschen Bahn auch noch den letzten Stoß versetzen. Nun ja, solche absurden Zustände zeigen, dass gut gemeinte Verbote oft schlecht gemacht sind. Papiertüten, die reißen, helfen niemandem. Und sie sind nicht zwangsläufig umweltfreundlicher.
Warum kein besseres System? Zum Beispiel ein Stofftaschen-Leasing. Für wenig Geld. Zurück ins Geschäft, waschen, wiederverwenden. Funktioniert bei Getränkekisten, warum nicht auch bei Einkaufstüten?
Es gab ja kreative Ideen wie essbare Strohhalme. Und nein, sie haben sich nicht ausschließlich wegen des EU-weiten-Verbots durchgesetzt. Es ist genau umgekehrt: Das Verbot kam als eine verzweifelte Reaktion, weil sie sich auf dem Markt nicht durchsetzen konnten. Die ersten klimafreundlichen Strohhalme waren übrigens ein totaler Schrott. Die waren nicht reif für den Markt, weil sie eben nicht mit Vorlauf gefördert wurden. Ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass sie sich durch Förderung und Peer Pressure allein problemlos auf der EU-Ebene durchsetzen würden. Dann wäre es auch positiver von den Konsumenten aufgenommen. Mir wird nichts weggenommen. Ich nehme an einem neuen spannenden Trend teil. Also, wenn wir mit ein Paar Marketingkniffen und Social Media Werbung an erwachsene Menschen überteuerte Plüschtiere verkaufen können (ja, Labubus sind gemeint), sehe ich nicht, warum das nicht auch mit klimafreundlichen Strohhalmen gegangen wäre.
Genau das wäre ja der richtige Hebel: Innovation fördern, statt auf Verzicht zu setzen. Und nicht immer warten, bis der Gesetzgeber eingreift. Gute Lösungen brauchen keine Vorschriften.
Das sehen wir auch beim Bio-Label. Es gibt definierte Grenzwerte für Schadstoffe aber eben keine Nulltoleranz. Und diese Grenzwerte werden ausgereizt. Weil sie da sind. Weil man genau weiß, wie weit man gehen darf. Das ist das Problem bei rein regulatorischen Systemen: Sie werden technisch erfüllt. Aber nur soweit es nötig ist.
Warum kein neues Label? Ein Super-Duper-Bio-Label, das auf Freiwilligkeit basiert. Höchste Standards, nahe Nulltoleranz, getragen von Produzenten, die zeigen wollen, was möglich ist. Bestärkt durch Peer Pressure. Und schon haben wir den Bio-Standard angehoben.
Kann man das wirklich ohne Regulierungen durchsetzen? Wird dann nicht jeder, der Lust hat, sich den neuen Label einfach so draufdrucken?
Hier lohnt sich ein Blick auf libertäre Ansätze. Die setzen nicht auf harte Verbote, sondern auf klare Eigentumsrechte, Transparenz und dezentrale Organisation. Kein autoritärer Staat, der alles reguliert. Aber auch keine Wildwest-Ökonomie. Ein faires Spielfeld im produktiven Dazwischen.
Natürlich muss die Lebensmittelindustrie immer überwacht werden. Ein libertärer Staat, von dem ich träume, ist kein anarchischer. Ich stehe für einen moderaten Minarchismus. Ein Staat, der die Grundsicherung, Sicherheit, Gesundheit, Eigentumsrechte und Transparenz für die Interaktionen garantiert.
Ein Beispiel aber, wie es konkret funktionieren könnte: Die Atmosphäre gehört niemandem. Deshalb kann jeder CO₂ ausstoßen, ohne zu zahlen. Was, wenn ab jetzt jeder, der CO₂ in die Luft bläst, an die Allgemeinheit zahlen müsste? Diese Einnahmen wären dann auch tatsächlich an die einzelnen Menschen ausgeschüttet. So ähnlich funktioniert zum Beispiel bereits seit Jahren die Alaska Permanent Fund Dividend.
Ein weiteres Element des libertären Staates: dezentrale Kooperation. Lokale Energiegemeinschaften. Herstellerkonsortien mit transparenten Standards. Genossenschaften, die auf langlebige Produkte setzen. Keine globale Bürokratie. Alles freiwillige Zusammenschlüsse.
Und, ganz wichtig: Transparenz. Wenn Produkte offen gekennzeichnet wären: wie langlebig, wie reparierbar, wie umweltschädlich sie sind, entschieden Käufer informierter. Alleine das würde sich positiv Auswirken. Wir fahren ja auch langsamer, wenn uns ein böser Smiley in der 30er Zone von der digitalen Taffel entgegenstarrt.
Dafür bräuchte es Umweltfonds oder öffentliche Plattformen mit Bürgerbeteiligung. Transparenz ist hier entscheidend. Einnahmen und Ausgaben müssen für alle nachvollziehbar sein. Die Ausschüttung kann technisch automatisiert erfolgen, ähnlich wie bei Dividendenmodellen. Kontrolle erfolgt natürlich nicht allein über Peer Pressure. Noch zuverlässiger: Man könnte sie im System selbst verankern, zum Beispiel durch Blockchain-Technologie. Smart Contracts und transparente, manipulationssichere Transaktionen würden es ermöglichen, CO₂-Zahlungen nachvollziehbar zu machen, ohne dass man einer zentralen Autorität blind vertrauen muss. Man könnte beispielsweise ein öffentlich einsehbares, digitales CO₂-Konto pro Unternehmen oder Produkt einführen, in dem genau erfasst wird, wie viele Emissionen verursacht wurden und wie viel dafür bezahlt wurde. Einmal gespeichert, kann das niemand mehr nachträglich verändern.
Und für die Beitragserechnung und Auszahlung an die Bürger könnte man sogenannte Zero-Knowledge-Proofs verwenden. Das ist eine Methode aus der Kryptografie, bei der jemand nachweisen kann, dass er etwas besitzt, macht oder weiß, ohne den Inhalt selbst offenzulegen. Also zum Beispiel: Ein System kann bestätigen, dass ein Unternehmen seinen CO₂-Ausgleich korrekt geleistet hat, ohne dass es seine kompletten Betriebsdaten offenlegen muss. Genauso wären die Auszahlungen an einzelne Bürger überprüft. Vertrauen entsteht hier nicht durch Autorität, sondern durch mathematisch abgesicherte Strukturen. Genau das wäre die nächste Entwicklungsstufe für ein glaubwürdiges, dezentrales Nachhaltigkeitssystem. Die Blockchaintechnologie würde das heute noch nicht auf ein Schlag leisten können, aber ihre Entwicklung ist rasant und nicht zu unterschätzen.
Umso absurder wirkt es, dass wir Technologien wie Quantencomputing, Blockchain oder Zero-Knowledge-Proofs einfach den Lobbys überlassen. Warum nicht die technologische Avantgarde für eine libertäre Infrastruktur nutzen, die Menschen unabhängiger macht? Statt digitale Kontrollwerkzeuge in Konzernen oder Ministerien zu verankern, könnten wir sie in offenen, dezentralen Netzwerken einsetzen, um genau das zu erreichen, worüber alle reden: Nachhaltigkeit mit echter Transparenz und Mitgestaltung der Zukunft.
Heute verlassen wir uns auf staatliche Produktlabels und zentrale Kontrollinstanzen. Aber jeder weiß, wie fehleranfällig das ist. Wie schnell es Einflussnahmen gibt, wie viel Lobbyismus dahintersteckt. Selbst streng regulierte Branchen wie Ernährung oder Pharma sind nicht frei von Interessen und Einfluss. Wer also glaubt, staatliche Kontrolle sei per se neutral, vergisst die Realität politischer Machtkämpfe.
Dass Einflussnahme real ist, sehen wir auch an ganz anderen Beispielen. E-Zigaretten gibt es seit über 20 Jahren. Es gibt mittlerweile Millionen Dampfer, bei denen man Langzeitbeobachtungen machen könnte. Klar, wir wissen noch nicht alles. Aber wir wissen mit ziemlicher Sicherheit: Sie sind weniger schädlich als herkömmliche Zigaretten. Trotzdem erscheinen immer wieder Artikel, die das Gegenteil behaupten. Immer wieder tauchen Behauptungen auf, sie seien „schlimmer als Tabak“. Ich höre es ständig in den Raucherecken. Warum so? Weil die Tabaklobby mächtig ist. Weil ein neuer Markt etablierte Interessen stört. Weil jede Regulierung auch dafür genutzt wird, um Innovation zu behindern. Um eigenen Lobby-Arsch zu retten. Das ist kein Zufall. Das ist System.
Deshalb braucht es neue Systeme. Systeme, in denen Informationen nicht durch Marketing-Abteilungen gefiltert werden, sondern durch überprüfbare Prozesse. Systeme, die nicht mehr verlangen, jemandem blind zu glauben.
Ein weiteres nicht zu unterschätzendes Steuerungselement ist sozialer Druck. Wer Umwelt und Gesellschaft schädigt, verliert Kunden, Investoren, Mitarbeitende. Wer fair wirtschaftet, gewinnt an Vertrauen. So funktioniert die Peer Pressure.
Was viele zudem unterschätzen: Menschen verhalten sich kooperativer, wenn sie wissen, dass andere hinschauen. Das ist keine naive Hoffnung, sondern gut belegt.
Zum Beispiel das Experiment von Andreoni und Petrie: Teilnehmer eines Public-Goods-Games sollten Geld spenden – entweder anonym oder öffentlich. In der öffentlichen Variante stiegen die Spenden um rund 50 Prozent. Warum? Weil soziale Anerkennung zählt. Menschen geben nicht nur aus Altruismus. Sondern auch, um gut dazustehen. Ein anderes Beispiel: Bateson, Nettle und Roberts führten ein Experiment in einer Teeküche durch. Dort wurde um freiwillige Beiträge für Kaffee gebeten. In manchen Wochen hing ein Poster mit Blumen über der Kasse, in anderen Wochen ein Poster mit Augenpaaren. Das Ergebnis: In den Wochen mit dem Augenposter wurde fast doppelt so viel gezahlt. Der Eindruck, beobachtet zu werden, erhöhte das kooperative Verhalten signifikant.
Fehr und Fischbacher zeigten ebenfalls: Kooperation nimmt deutlich ab, wenn Menschen anonym handeln können. In offenen, beobachtbaren Situationen dagegen stieg die Kooperationsrate je nach Szenario um 20 bis 60 Prozent.
Auch bei Auktionen für wohltätige Zwecke zeigte sich: Wenn Gebote öffentlich gemacht wurden, stieg die Spendenhöhe messbar. Feldman und Price fanden heraus: soziale Sichtbarkeit ist ein entscheidender Anreiz. Die Menschen wollten nicht nur das Objekt ersteigern. Sie wollten auch sozial gut dastehen.
Was heißt das für den libertären Klimaschutz? Menschen sind soziale Wesen. Und sie handeln großzügiger, wenn sie sich als Teil einer Gemeinschaft erleben. Wenn ihr Handeln sichtbar ist. Wenn es Resonanz gibt. Ein System, das diese sozialen Rückkopplungen aktiviert, braucht weniger staatliche Kontrolle. Es funktioniert aus sich heraus.
Natürlich ist das kein perfektes System vom ersten Tag an. Es gibt keinen garantierten Über-Nacht-Erfolg. Aber es gibt eine Dynamik, die funktioniert. Und sie ist offen für Korrektur. Fehler passieren. Aber sie werden schneller sichtbar. Sie werden diskutiert. Und sie werden durch soziale Reaktion oft korrigiert.
#MeToo ist ein Beispiel. Kein Gesetz hat es ausgelöst. Es war öffentlicher Druck. Und es hat Wirkung gezeigt. Natürlich gab es dann im späteren Verlauf welche, die es auch ausgenutzt haben. Aber auch das wurde sichtbar und die Debatte wurde weiterentwickelt.
Was wir also brauchen, ist kein blinder Glaube an das Gute im Menschen. Sondern Strukturen, die gutes Handeln belohnen. Schlechte Entscheidungen unattraktiv machen. Märkte ehrlich machen.
Ein echter Markt heißt: Wer Ressourcen verbraucht, zahlt dafür. Wer dem Gemeinwohl dient, profitiert davon. Wer Verantwortung übernimmt, wird sichtbar belohnt. Dann braucht es keine zentrale Regulierung. Dann entsteht Dynamik von unten. Klimaschutz wird so kein Zwangsprojekt., sondern eine einzige logische Folge. Kein Moralisieren. Kein Verbieten. Das heißt jetzt Ermöglichen. Und das ist keine PR-Hülse. Das wäre wirklich so.
Libertarismus bedeutet nicht, alles zu dürfen. Es heißt, die Folgen des eigenen Handelns zu tragen. Wer glaubt, man könne einfach weiterwursteln wie bisher, hat den Ernst der Lage nicht verstanden.
Der Klimawandel ist zu groß für Schuldzuweisungen. Aber nicht zu groß für eine Gesellschaft, die bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Wenn man sie lässt.
Warum fiebern wir mit, obwohl wir es besser wissen? Warum ist selbst die schärfste Analyse gegen eine schnulzige Hollywood-Szene voller Pathos, mit dieser einen Melodie im richtigen Moment, einfach machtlos?
Es geht um den Schatten. Und zwar um den kollektiven Schatten.
Wenn wir Geschichten konsumieren, folgen wir einem tiefenpsychologischen Automatismus: Wir identifizieren uns.
Mit dem Helden. Mit dem Rebellen. Mit dem Opfer. Mit dem Antihelden.
Wir gehen mit. Wir leiden mit. Wir hoffen. Wir hassen.
Wir wollen, dass dieser gewinnt und dieser verliert. Obwohl wir wissen, dass das alles Fiktion ist.
Obwohl wir vielleicht intellektuell verstehen, dass Moral nicht so einfach ist.
Trotzdem fiebern wir mit.
Das ist kein Fehler. Es ist ein archetypisches Muster. Jung würde sagen: Der Archetyp agiert durch uns. Wir leben ihn, nicht umgekehrt. Die kulturellen Formen, die uns bewegen, sind voller
kollektiver Bilder: der Held, der Märtyrer, der Verräter, die göttliche Mutter, der trickreiche Narr, das dunkle Spiegelbild.
Diese Muster sind älter als jeder Einzelne von uns und stärker als unser Wille.
Aber das Problem ist nicht nur der Inhalt. Es ist die Form selbst, die diese Muster trägt.
Ein epischer Soundtrack. Eine Großaufnahme in Zeitlupe. Ein tragischer Monolog.
Die Form erzeugt eine emotionale Ordnung, in der der Inhalt beinahe beliebig wird.
Wir fühlen, bevor wir denken. Wir fiebern mit noch bevor wir wissen, ob wir das überhaupt wollen.
C. G. Jung verstand Archetypen nicht einfach als kulturell geformte Muster, sondern als universelle, kollektive Strukturbedingungen des psychischen, größtenteils un- oder unterbewussten Erlebens, ähnlich einem apriorischen Rahmen, der nicht durch Erfahrung entsteht, sondern Erfahrung überhaupt erst ermöglicht. Die Archetypen sind also weder erlernt, noch kulturell tradiert oder epigenetisch entwickelt, sondern ursprünglich vorhanden. Jung entwickelte diese Theorie aus der empirischen Arbeit mit Träumen, Mythen und Symbolen, ging also induktiv vor, und kam doch zu einer als notwendig gesehenen Struktur, die allen Menschen gemeinsam sein soll. Archetypen wie der Held oder der Schatten sind für ihn keine Inhalte, sondern formgebende Prinzipien, die unbewusst wirken und das Denken, Fühlen und Handeln ordnen, lange bevor wir ihnen Bedeutung geben.
Und genau hier wird es gefährlich:
Denn was, wenn das Mitfiebern selbst Teil des Problems ist?
Was, wenn wir unbewusst immer wieder denselben Schattenfiguren folgen?
Diese Form von Identifikation, also das Andocken an die Archetypen, formt unser Empfinden von Gut und Böse, von Heldentum, von Gerechtigkeit. Wenn ich mir etwa Herr der Ringe heute, in Kriegszeiten, noch einmal anschaue, zieht sich in mir alles zusammen. Die epische Wucht des Films, die musikalische Überhöhung, die Lichtverhältnisse – alles ordnet sich einem mythischen Heldennarrativ unter, das kaum noch hinterfragt werden kann. Die „Guten“ sind mutig, schön, nahezu unverwundbar; auf dem Schlachtfeld sterben fast nur Nebendarsteller. Die „Bösen“ hingegen sind entmenschlicht, verzerrt, zu Schattenwesen gemacht. Sie verlieren immer, auch wenn es kurz zwecks Spannung kippt, am Ende verlieren sie. Sie haben keine Geschichte, kein Innenleben, keine Widersprüche.
Diese Art der Darstellung ist nicht einfach Fiktion, sie ist emotionale Konditionierung. Wer solche Narrative konsumiert, besonders im großen Stil, mit starker Musik und visueller Fülle, übernimmt oft unbewusst das Muster: Wir hier, die Guten. Dort, das Dunkle, das Böse. Es ist ein Muster, das sich leicht übertragen lässt: auf reale Feindbilder, auf politische Propaganda, auf Kriegsrhetorik. Und es ist immer wieder wirksam. Gerade weil es so schön in Szene gesetzt ist.
Zudem wird der Krieg als ein Abenteuer inszeniert, in dem die Guten immer gewinnen. Gerechtigkeit immer siegt. Das ist nicht immer der Fall. Leider. Selbst wenn wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen oder das zumindest glauben, ist der Krieg kein Abenteuer. Es ist verdammt nochmal eine Schlacht. Ein Menschenleiden. Es darf nicht romantisiert werden. Es dürfen keine falschen Erwartungen an tapfere Heldentaten geweckt werden. Das ist brandgefährlich, vor allem bei jüngeren Zuschauern.
Bertolt Brecht versuchte, diesen Automatismus zu durchbrechen.
Sein berühmter Verfremdungseffekt sollte die Identifikation stören.
Das Publikum sollte nicht mehr mitfühlen, sondern mitdenken.
Der Schauspieler sollte zeigen, dass er spielt, statt in der Figur zu verschwinden. Dazu kamen noch viele andere Ideen, wie z. B. das Ende der Geschichte gleich zu Beginn zu spoilern, um die Spannung rauszunehmen, damit das Publikum dann darüber mitdenkt, wie es sich dahin entwickelt hat, statt sich zu fragen, wie es wohl weitergeht. Oder offene Kulissen mit roten Vorhängen als Teil des Bühnenbilds, damit bloß keiner vergisst, dass wir hier die ganze Zeit im Theater sitzen.
Das Vorhaben war alles in allem äußerst spannend. Aber: Die Form blieb Theater.
Dann fühlten wir halt mit den Schauspieler-Ichs hinter den Figuren mit, auch wenn es nicht intendiert war, einfach weil jeder Darsteller, sobald er Bühne betritt, automatisch zu einer Figur, seinem sogenannten Schauspieler-Ich wird, ob er's will oder nicht.
Und wir suchen so sehnsüchtig nach einem Mitfieberlackmusblatt, da hilft auch kein Vorhang.
Der Schatten bleibt.
Wir leben eben in einer Kultur, die auf Identifikation aufgebaut ist. Und diese wird fast schon autopoetisch immer weiter befeuert. Streaming-Algorithmen, Marketingkampagnen, politische Rhetorik, TikTok-Reels, das alles funktioniert heute über Narrative.
Über das passende Storytelling.
Über das Gefühl: Ja, das bin ich.
Das verstehe ich.
Das berührt mich.
Und jedes dieser Narrative speist sich aus den Archetypen.
Das bedeutet: Wir leben nicht einfach in einer Kultur der Geschichten, wir leben in einer Kultur des kollektiven Wiederholens. Die ewigen Urbilder: Held, Mutter, Opfer, Racheengel, Erlöser, Verräter, laufen immer weiter. Nur schneller. Bunter. Kürzer. Oberflächlicher.
Einige wenige surrealistische Filme, einige wenige Installationen, einige wenige Formen des immersiven Theaters, bestimmte Literatur.
Sie verweigern sich bewusst der einfachen Identifikation.
Sie lassen Fragen offen. Sie zeigen Schmerz ohne Erlösung.
Sie geben dem Schatten Raum, ohne ihn zu glorifizieren.
Aber diese Werke erreichen selten den Massenmarkt.
Denn der Massenmarkt verlangt Kohärenz.
Eine klare Hauptfigur. Eine Katharsis. Einen erzählbaren Sinn.
Vielleicht können wir lernen, Geschichten zu erzählen, in denen die Identifikationsmöglichkeit durchsichtig bleibt. In denen wir mitfiebern und zugleich spüren, dass etwas nicht stimmt. In denen wir emotional eintauchen und zugleich etwas in uns fragt: Warum berührt mich das gerade so sehr? Was ist mein Anteil daran?
Und wenn es nicht funktioniert?
Dann wissen wir es wenigstens.
Vielleicht gibt es auch gar keine Lösung.
Vielleicht wird Kultur immer mit dem Schatten spielen, weil er dazugehört.
Aber wenn wir ihn sehen und benennen können, ist das schon mal ein Anfang.
Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?
Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen,
es bleibet dabei: die Gedanken sind frei.
Und sperrt man mich ein im finsteren Kerker,
das alles sind rein vergebliche Werke.
Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei: die Gedanken sind frei.
Was ist aber jetzt die Freiheit? Was genau ist damit gemeint?
Vielleicht liegt genau darin das Problem, wenn wir um Freiheit streiten: Dass wir mit dem Wort Freiheit etwas benennen wollen, das uns selbst nicht ganz klar ist. Ist es ein Gefühl? Oder ein Zustand? Eine Struktur? Eine Forderung?
Beginnen wir erstmal mit Kant. Kants Freiheitsbegriff ist kein Tun, was man will. Freiheit ist bei ihm die Autonomie des Willens, die Fähigkeit, sich selbst moralische Gesetze zu geben. Es ist eine Freiheit, die nicht bloße Willkür ist, sondern vernünftige Selbstgesetzgebung. Isaiah Berlin hat daraus später zwei Begriffe gebildet: Freiheit von (Freiheit von inneren und äußeren Zwängen) und Freiheit zu (Freiheit zu einem selbstbestimmten Handeln).
Was meinen wir also, wenn wir von Freiheit reden: das von oder das zu? Viktor Frankl, Psychiater und Holocaust-Überlebender, schreibt: „Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.“ Dei Freiheit der Gedanken, die man keinem nehmen kann. Vielleicht ist das schon der erste Schlüssel: Die Freiheit beginnt nicht im äußeren Handeln, sondern im inneren Erleben.
Dann schauen wir da etwas tiefer in unser Inneres hinein. Was sagt die Neurowissenschaft? Benjamin Libet hat gezeigt, dass unser Gehirn schon 500 Millisekunden vor dem bewussten Entschluss in Richtung Handlung aktiv wird. Wir tun also, bevor wir denken. Heißt das jetzt, wir sind unfrei? Nicht unbedingt. Philosophen wie Daniel Dennett und Alfred Mele sprechen vom Vetorecht, davon, dass wir zwar Impulse empfangen, aber dennoch entscheiden können, ob wir ihnen folgen. Es gibt auch einen Moment, wo wir die zu ausführende Handlung last minute unterdrucken können. Vielleicht ist es genau dieses Innehalten, dieser Moment zwischen Impuls und Handlung, in dem Freiheit wohnt?
Was passiert aber bei diesem Innehalten, wenn andere dabei sind? Nun ja, auch die Sozialpsychologie kennt die Grenzen der Freiheit. Im berühmten Asch-Experiment gaben Versuchspersonen wissentlich falsche Antworten, nur weil die Gruppe es tat. Wir sind soziale Wesen. Unsere Prägungen, unser Milieu, unsere Herkunft beeinflussen uns tief. Sind wir also doch unfrei?
Es gibt Menschen, die über sich hinauswachsen. Die ihre Entscheidungsmaschine umprogrammieren, wie Harry Frankfurt es nennt. Er unterscheidet zwischen Freiheit erster Ordnung (tun können) und zweiter Ordnung (reflektieren, was man tun will). Diese zweite Ordnung, das Wollen des Wollens, ist vielleicht das, was Freiheit im eigentlichen Sinn meint. Sie ist nach Frankfurt nur den Menschen vorbehalten. Wir können z. B. Japanisch lernen, und damit erweitert sich unser Horizont. Dann könnten wir nach Japan reisen, japanische Bücher im Original lesen und so weiter. Diese neue Freiheit hätten wir nicht ohne dass wir unsere Entscheidungsmaschine umprogrammiert oder besser gesagt geupgradet hätten.
Schön und gut, wir haben also Japanisch gelernt und freuen uns des Lebens, durch Tokios Straßen schlendernd. Was aber, wenn das sowieso genau so und nicht anders kommen musste? Was, wenn das ganze Universum determiniert ist? Wenn alle Teilchen ihren Weg schon kennen, inklusive jeder einzelnen Synapse unserer Gehirne? Dann könnte der Laplacesche Dämon, ein Konzept eines allwissenden Wesens, das ganze Universum bis auf das letzte Neutrino begreifen und vorhersagen.
Und doch: Wenn wir es nicht wissen oder merken können, dass alles determiniert ist, spielt es dann eine Rolle? Nick Bostroms Simulationstheorie stellt dieselbe Frage. Was, wenn wir in einer Simulation leben, einer Art Matrix, was dann? Die Antwort vieler Philosophen, und denen schließe ich mich gerne an: Auch wenn alles vorbestimmt ist, macht es einen Unterschied, dass wir es erleben, als ob es nicht so wäre. Wenn wir also die Matrix nicht wahrnehmen können, sind wir genauso frei in unserem Als-Ob.
Abgesehen davon ist es aus ethischer Sicht, meiner Meinung nach, nur vertretbar, so zu handeln, als wären wir frei. Denn ohne Freiheit gibt es keine Verantwortung. Und in einer Welt ohne Verantwortung wollen wir nicht leben. Wenn die Welt also vollständig determiniert ist und wir gütig handeln, dann war dieses Handeln ohnehin unvermeidlich, es hätte nicht anders kommen können. Ist die Welt jedoch nicht determiniert, sondern erlaubt echte Entscheidungen, und wir handeln dennoch gütig, dann haben wir uns moralisch richtig verhalten. In beiden Fällen sollten wir uns für das Gute entscheiden, auch es wenn nur im zweiten Fall auf unsere Entscheidung wirklich ankomt. Es ist aus ethischer Vorsicht klüger, von Freiheit auszugehen, schon allein wegen der Möglichkeit, dass sie real sein könnte.
Und dann ist da noch die Quantenphysik, die ziemlich viele Dinge real macht. Auf subatomarer Ebene gibt es keine festen Bahnen. Das sind alles nur Wahrscheinlichkeiten. Da würde auch der Laplacesche Dämon abwinken und sich eine Tüte Popcorn holen. Roger Penrose spekuliert sogar, ob diese subatomare Offenheit mit unserem Bewusstseinsempfinden zu tun haben könnte, was wir alleine durch die Neuronenverknüpfungen seit Jahren nicht erklärt bekommen. Und wenn dann also unser Bewusstsein zu den ebenfalls bewussten Handlungen führt, dann wäre das doch schon die Freiheit, oder nicht? Vielleicht ist Freiheit also nicht die absolute Willkür, sondern die Fähigkeit, innerhalb eines Wahrscheinlichkeitsfeldes so aber auch anders zu handeln, als erwartet. Vielleicht ist sie, zumindest im rebellischen Sinne, genau das: die Entscheidung gegen die eigene Statistik.
Wir sagen ja oft: Ich habe mir die Freiheit genommen. Meist meinen wir damit den Mut, etwas zu tun, was nicht selbstverständlich war. Gerade dort, wo Freiheit fehlt, entsteht der tiefste Freiheitsakt. Wer in einer Diktatur aufbegehrt, nimmt sich etwas, das ihm nicht gewährt wurde. Diese Freiheit ist eine Grenzüberschreitung und zugleich auch ein moralischer Anspruch. Vielleicht ist das der wahre Ort der Freiheit: nicht im Erlaubten, sondern genau da, wo es nicht von selbst geht, im Gewagten, im Rebellischen?
Ist jede Grenzüberschreitung dann auch schon Freiheit? Wenn jemand stiehlt, sagen wir ja nicht: Er hat sich die Freiheit genommen. Wir verstehen unter Freiheit also stillschweigend auch Verantwortung. Die Freiheit des einen endet dort, wo die des anderen beginnt. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn manchmal, wie bei Robin Hood, überschreitet jemand die Grenze der anderen, der Gerechtigkeits willen. Robin Hood nimmt den Reichen also ihre Freiheit, ihr Eigentum zu behalten. Und doch feiern wir ihn. Weil wir das moralische Recht dieser reichen Unterdrucker auf ihr Eigentum in Frage stellen.
Die Freiheit ist also auch relational. Sie bewegt sich zwischen Eigenem und Anderem. Zwischen System und Empfinden. Zwischen Gesetz und Gefühl. Und damit kommen wir zur Sprache.
Wenn wir Freiheit sagen, meinen wir oft Unterschiedliches. Manchmal meinen wir Möglichkeiten, manchmal Rechte, manchmal Emotionen.
Wir könnten uns eigentlich viel präziser ausdrucken.
Statt pauschal von Freiheit zu sprechen, könnten wir auch sagen:
Ich habe die Möglichkeit, zwischen Optionen zu wählen.
Ich bin unabhängig von äußeren Zwängen.
Ich handle autonom, also nach eigenen Prinzipien.
Ich fordere Gerechtigkeit, wenn mir Handlungsspielräume verwehrt werden.
Und doch bleibt etwas zurück, wenn wir das Wort Freiheit aus unserem Vokabular streichen. Denn was keiner dieser Begriffe ausdrückt, ist das Erlebnis. Die Qualia.
Der Moment, in dem ich spüre: Ich kann. Ich muss nicht, aber ich kann. Oder ich muss anders, und ich kann trotzdem.
Freiheit ist das Wort für deises Offene, Unbestimmte, Begehrte. Wie wenn der Wind durch die Haare saust, wenn ich in einem Boot an Venedigskünste vorbeiflitze. Wenn ich auf der Demo das Mikro in die Hand nehme und in die Menge blicke. Wenn ich in die tiefe Nacht oder das frühe Morgen aufbreche, einfach so ohne Sinn und Zweck. Für diesen Moment zwischen Angst und Mut. Zwischen Anpassung und Aufbruch. Nur dieser eine Moment, dieses Gefühl, diese Momentaufnahme eben. Ein stilles Frame, nur die Haare sausen. Sonst ist alles still oder in Slow-Mo.
Wenn wir aber einen Zustand der Handlung beschreiben wollen, der diesem Gefühl der Freiheit dann enspringt, beziehungsweise auf ihn folgt, brauchen wir ein anders, neues Wort. Wie Wahlmut als bewusste, verantwortliche Entscheidung gegen das Erwartbare. Als eine Handlung im Angesicht von Risiko und Verantwortung. Als Austarieren moralischer Räume. Mutig, aber nicht leichtsinnig. Möglich, aber nicht beliebig.
Wenn wir also diese beiden Begriffe trennen, könnten wir der Freiheit ein neues Zuhause geben: nicht als politischer Grundwert oder vager Rechtsbegriff, wo wir alle nicht wirklich wissen, wovon wir da reden, sondern als Qualia, als menschliches Erleben. Ein Gefühl, wie Freude oder Trauer. Und so gesehen, ist die Freiheit nicht das Ziel, sondern der Raum, in dem Ziele und Entscheidungen erst entstehen.
1564 Wochen
Ein Versuch der Rückrechnung (August 2024, kurz vorm dreißigsten Geburtstag).
Dreißig Jahre.
Das sind knapp elftausend Tage.
Es scheint echt nicht viel zu sein.
An die sechstausend davon habe ich in Russland verbracht.
Oder rechnen wir mal in Wochen. Dann sind's 1564.
1564 Wochen des Lebens seit der Geburt. Plus 37 im Mutterleib.
Kennst du diese Wandkalender, die einen mahnen sollen: Nutz die Zeit, die dir noch übrig ist.
Jede Woche ein Kästchen, das man wegstreicht.
Der geht dann in der Regel bis 90 Jahre. Knapp 5000 Kästchen. Das ist ziemlich optimistisch.
Ich habe mich nie getraut, mir so einen zuzulegen.
Aber wenn man so zurückschaut, ist es echt ernüchternd.
1564 Wochen also.
Davon 365 Wochen Kindheit bis zur Schule.
Was extrem viel ist – dafür, dass ich kaum zusammenhängende Erinnerungen daran habe.
An die 200 Wochen Schul- und Uniferien. Reisen mit meinen Eltern, die Sommer bei der Oma in Sotschi.
321 Wochen pure Schulzeit.
Gut 280 Wochen Uni.
208 Wochen Arbeitszeit.
Davon rund 25 Wochen im Lockdown.
521 Wochen kenne ich meinen Mann.
417 davon sind wir verheiratet.
Seit knapp 400 Wochen bin ich Mutter.
360 Wochen hatte ich Übergewicht.
30 Wochen war ich magersüchtig.
Seit über 130 Wochen führt mein Herkunftsland einen Angriffskrieg.
Das ist fast ein Zehntel meines Lebens.
Ich habe an etwa 1000 Wochen meines Lebens mehr oder minder zusammenhängende Erinnerungen.
Der Rest ist weg oder wandert noch in tiefsten Ecken des Unbewussten.
Seit 15 Wochen schreibe ich über diese 1564 Wochen.
Versuche, sie zu greifen. Zu sortieren.
Immer wenn ich meine Erinnerungskiste mit all den emotional wertvollsten angesammelten Dingen aufmache, spült es diese Wochen wieder hoch.
Man könnte es immer weiter aufdröseln.
Vielleicht auch in Monaten rechnen, davon gäb's dann 360.
Zu jedem Monat etwas notieren: Geschehenisse, Gefühle, was halt noch da ist.
Vielleicht wäre das ein Anfang.
Eine andere Form vom Kalender.
Einer, bei dem man nicht wegstreicht, sondern festhält, was so hartnäckig zu entwischen versucht.
UPDATE:
50 Wochen später.
Die kann man auf all das nun draufrechnen.
Auch auf den Krieg. Leider.
Der nächste Geburtstag schon im Nacken. Ich kann nicht wirklich sagen, ob die Zeit sich beschleunigt, wie wir alle im Smalltalk gerne klagen, oder ob sie doch in einer Schweb-Starre anhält und sich ewig zieht. Vielleicht tut sie beides. Die Quantenphysik hat uns immerhin in eine Art Dialektikdenke gezwungen, was die Zeit betrifft. So fühlt es sich auch an.
Das größte Problem unseres Denkens ist, dass wir unsere Freiheit heute an Orten ausleben, die längst vordefiniert sind. Großkonzerne und Tech-Giganten haben Plattformen geschaffen, auf denen wir uns scheinbar individuell entfalten können; wir gestalten unsere Social-Media-Profile, vernetzen uns, posten, liken, kommentieren. Es fühlt sich nach Wahl an. Nach Handlungsspielraum. Nach Selbstbestimmung.
Doch wer tiefer hinsieht, wird feststellen: Noch nie waren wir so gelenkt wie heute, zumindest nicht in der Zeit vor dem Internet. Die Wege, auf denen sich unsere Kommunikation, unser Denken, unser gesellschaftliches Miteinander bewegen, sind erstaunlich stark vorgezeichnet. Die Plattformen spucken uns Formulare mit hübscher Mehrfachauswahl heraus und wir flicken daraus freudig unsere Individualität zusammen. Und wir merken es kaum, was wir da so tun. Denn alle machen mit. Und natürlich machen alle mit, weil dort eben alle sind.
Man kann sich dem entziehen. Ich habe meine Profile gelöscht, alle, die letzten davon ganz vorbildlich am ersten-ersten. Erst dachte ich: Es ist nur eine Illusion, dass man etwas verpasst. Ein halbes Jahr ist vergangen.
Und ich muss sagen...
Man verpasst nichts. Zumindest nichts Wesentliches. Was man gewinnt, ist Zeit. Klarheit. Ruhe. Man gewinnt den eigenen Gedankenraum zurück.
Im beruflichen Kontext ist der Verzicht nicht ganz so einfach. Wer mit weniger Vitamin B auf die Welt kam, muss sich irgendwo andocken. Und gerade seit Corona, mit dem Siegeszug von Homeoffice und digitalen Events, ist fast alles ins Netz gewandert.
Lebt man in einer kleineren Stadt, wird diese Abhängigkeit von der Digitalität noch spürbarer. Vernetzung passiert heute online. Die Möglichkeiten jenseits davon sind rar.
Und auf der einen Seite ist das wunderbar. Mein Mann und ich arbeiten beide mit den Unternehmen zusammen, die gar nicht in unserer Stadt sitzen. Diese Art von Arbeit funktioniert gut, wenn einmal ein echter Kontakt hergestellt ist. Das Problem liegt darin, dass die digitalen Wege, auf denen unsere Kommunikation sich bewegt, nicht neutral sind. Sie sind reguliert. Vorstrukturiert. Und diese Struktur prägt nicht nur den Zugang, sondern auch das Denken, das Verhalten, die Erwartungen.
Ich muss dann oft an Hannah Arendt denken. An ihre Unterscheidung zwischen Arbeiten, Herstellen – und dem eigentlichen Handeln.
Handeln hieß für sie: in echte Beziehung mit anderen Menschen treten, initiativ werden, unplanbare Dinge tun, und damit etwas echtes, politisches zum gemeinsamen Raum
beitragen. Das, was wir heute auf Social Media tun, ist aber kein Handeln. Es ist Herstellen. Und eventuell nicht mal das. Herstellen wäre laut Arendt (sehr vereinfacht
gesagt) Dinge erschaffen, die uns überdauern. Unsere Social Media Profile werden uns nur überdauern können, wenn es die Plattformen zulassen.
Wir stellen also unser Profil her, unser ideales Fremdbild. Wir stecken da Zeit rein, es muss ja, vor allem, wenn beruflich was auf dem Spiel steht. Das Vernetzen und das Storytelling ist überall und wird zu Pflicht. Leute planen sich täglich Zeiten ein, an denen sie auf LinkedIn oder sonst wo netzwerken. Arendt würde sogar sagen, dass es ab diesem Punkt Arbeit ist, weil es nicht echt und auch vergänglich ist und eben nicht währt und schnell wieder verfliegt, wenn man damit aufhört. (auch wenn Internet nichts vergisst, das wäre aber ein anderes Faß, das schließen wir mal schnell.)
Und doch glauben wir kollektiv daran, dass das, was auf Social Media passiert, ein Austausch sei. Diese Illusion ist erstaunlich mächtig. Denn wenn die Orte, an denen wir uns ständig Dinge mitteilen, bereits von Konzernen definiert und gelenkt sind, was heißt es dann für unsere Freiheit? Für unsere Möglichkeit, wirklich zu handeln?
Und als wäre das nicht genug: Fast 50 % des weltweiten Internetverkehrs stammen laut Studien von Bots. Meta hat sogar eigene KI-Profile hochgeladen, die echte Personen imitierten. Die Dead Internet Theory wirkt damit gar nicht mehr so aluhutmäßig.
Lass dir das auf der Zunge zergehen: Was wir für einen Dialog halten, ist oft nur Simulation. Über dich wird eine durch Lobbyarbeit feinjustierte und durch Algorithmen perfekt auf dich abgestimmte politische Agenda ergossen. Oder dir wird suggeriert, dass du dringend ein Produkt brauchst. Oder. Oder. Oder.
Vielleicht brauchen wir neue Orte. Oder den Mut, alte Räume wiederzubeleben.
Vielleicht beginnt politisches Handeln heute mit einem Austritt. Mit dem Loslassen der Verbundenheitsillusion.
2024
Und während vor dem Theater Sandsäcke stehen, angesichts der kommenden Überschwemmung, spielen wir weiter, immer weiter. Geht auch nicht anders. Dafür werden wir gebucht.
Und wir haben hier auch ein Anliegen. Eine Message, die ebenso dringend ist. Glaube ich zumindest. Hoffe ich zu glauben.
Und doch, als ich zu diesen Sandsäcken blicke, frage ich mich, ob wir heute alle miteinander nicht einfach was anderes spielen sollten. Das Verlangen nach unüberlegten Heldentaten verschwimmt aber langsam im nach nassem Holz riechenden Dampf. Seit einer Woche dampfe ich. Die Nerven sind nackt. Ich hülle mich in die Kapuze ein.
Dann blicke ich zurück auf das Theaterhaus. Es steht fast leer. Ich glaube, dass uns Menschen grundsätzlich ein Platz zum realen, zwischenmenschlichen Austausch fehlt. So eine Agora, so ein Marktplatz, sowas haben wir nicht mehr. Jetzt ist das alles digital, wo wir uns hinter den Avataren verstecken können, um unsere Meinung kundzutun. Doch die wenigsten Digitalanecker hätten die Eier, auch nur ein Zehntel davon in der Öffentlichkeit zu sagen. Deswegen spalten sich unsere Lager immer weiter. Der Konsens wird schwerer, wenn dir ein Avatar entgegenbrüllt. Und die Empathie zum Andersdenkenden regt sich oft erst, wenn wir uns wirklich real begegnen.