Ich werde oft gefragt, ob ich Französin bin. Es überrascht mich jedes Mal, wie Menschen auf diese Idee kommen. Ich kann nicht mal Französisch. Früher habe ich es auf den kurzen, schwarz gefärbten Haarschnitt geschoben. Haben die alle zu viel Amélie geguckt? Als ich dann aber wegen der plötzlichen Haarfarballergie und dem daraus folgenden anaphylaktischen Schock mir im Krankenhaus geschworen habe, nie wieder Haare zu färben, dachte ich, dass es mit dem Französischsein nun endgültig vorbei wäre.
Bis ich das noch ein paar Dutzend Mal gehört habe.
Das letzte Mal im Zug, wo ich einen H&M-Pulli mit der Aufschrift Athlétique Ligue Sportive (wie liest man das überhaupt?) anhatte. Ich drehe mir eine Zigarette für den nächsten Zehn-Minuten-Halt, unterhalte mich mit meinen Sitznachbarn auf Hand-und-Fuß-Italienischersatz über das Schneewetter in Südtirol und werde dann allen Ernstes gefragt, ob ich eine französische Athletin wäre. Mein Blick geht zur Kippe und wieder zurück zum nun verdutzten Gesicht meines Gegenübers. „Wie kommen Sie drauf?“ – „Ihr Pulli.“ Ach so. Südtirol hat wohl eine andere H&M-Auswahl.
Ich höre oft, dass man meinen Akzent nicht zuordnen kann. Ich kann das r nicht rollen. Also eigentlich schon, bei Worten wie Frau oder froh, wo ein harter Vokal dahinter ist. Aber bei Frevel oder friedlich wird’s grenzwertig. Selektives Rollen tue ich mir und den anderen nicht an; ich nutze die Tatsache, dass ich außer in Bayern nirgendwo in Deutschland gelebt habe. Wenn’s sich die Bayern nicht mal antun, warum sollte ich meine Zunge in eine Stellung bringen, wo sie nicht freiwillig hinwill?
Ich bin weder eine Französin noch eine ketterauchende französische Athletin, auch wenn mir diese Vorstellung durchaus gefällt. Ich bin eine Russin, die mit sechzehn Jahren alleine nach Deutschland gezogen ist, um hier zu studieren; eine privilegierte Einwanderin, von den Eltern ins bessere Leben geschickt. Meine Mutter sagte mir kurz vor der Abreise noch, dass ich es mit meinem Gerechtigkeitsgefühl in Russland nicht leicht haben würde.
2022 stellte ich mit Entsetzen fest, dass sie recht hatte. Ich bin eine Meisterin der Verdrängung; deswegen habe ich das Klingeln, naja, das Läuten, das regelrechte Schreien überhört. Das, was sich all die Jahre anbahnte. Dass mein Heimatland zu einem Terrorstaat langsam, aber sicher mutiert, hätte man längst sehen können, wenn man denn gescheit hingeschaut hätte. Im Nachhinein sieht man dann alles; so klar wie in einem Kriminalroman, wenn die ganze Kausalkette gegen Ende plötzlich aufgeht. Wenn der Roman aber klug geschrieben ist, sieht man’s wirklich erst am Ende. Ich glaube nicht, dass Russland seine postsowjetische Geschichte so klug geschrieben hat. Ich glaube aber, dass wir zu hervorragenden Verdrängern erzogen worden sind.
Als die Panzer vor der ukrainischen Grenze standen, haben wir alle weggeschaut. Das wird er doch nicht tun. Er will doch nur Eier zeigen. Wenn er alle erschrocken hat, zieht er wieder ab. Dabei hätten wir alle – vor allem aber wir, die die ganze Kindheit in Russland verbracht haben, die seit dem Vorschulalter nur Putin und seine Marionetten an der Macht gesehen haben – Alarmglocken läuten hören sollen. Und gleichzeitig ist es nun rückblickend klar, dass wir es niemals hätten tun können; denn für unsere Verdrängungsexpertise wurde schon seit der Grundschule fleißig vorgesorgt.
Und jetzt stehen wir vor einem Scherbenhaufen aller Demokratieanfänge und fragen uns, wie es dazu kommen konnte.
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