Sie schreien dich an. Dann reden sie von Werten. Von Werten, die du nicht genug geachtet hast.
Du bist der Grund für die durch die seit Jahrzehnten gelegte, scheinbar unzerstörbare Betonschicht sprühende Dekadenz. Du bist der Grund, warum unser Vorhang so abrupt heruntergerissen wurde. Auch wenn du da noch nicht geboren wurdest.
Schau dich um. Deine Freunde klauen; klauen das Geld deiner anderen Freunde. Ihr alle werdet abrutschen. Weil ihr tief in euch drin wisst, dass ich recht habe.
All die Filmbilder mit tapferen sowjetischen Helden rasen mir durch den Kopf. Eine Frau auf der Treppe im Eisenstein-Film. Das seit einer Sekunde mutterlos im Kinderwagen herunterpurzelnde Baby. Schüsse. Blut. Und überall sprüht dieses Heldentum. Ich klebe darin fest; jedes Mal, wenn ich daran reiße, reißt die obere Hautschicht mit ab. Bis ich ganz dünnhäutig, fast transparent dastehe. Bis ich nicht mehr weiß, wer ich bin.
Ich schmeiße Kollektivismus aus mir raus und stehe vor einem inneren Abgrund; vor einem Loch, in dem alles verschwindet. Seit Jahren verschwindet viel zu vieles darin; seit dem Kriegsbeginn ist es noch weiter aufgerissen. Alles fällt rein; es ist wie ein endloser Magen, der niemals satt wird.
Ich kann nicht mehr. Ich muss aber können. Also kann ich.
Der Junge aus meiner Parallelklasse mit ausgeleckten Haaren, rundem Gesicht und kleinen eisigen Augen erzählt seinen fünf Millionen YouTube-Followern, dass das alles nicht so eindeutig sei. Er ist dabei rhetorisch gar nicht so schlecht; es fällt nicht sofort auf, dass er auf zehn Stühlen gleichzeitig sitzen will.
Kinder in meiner Schule spielen jetzt ein Spiel: Argumente und Fakten. Die Fakten werden dabei von einem Lehrer vorgegeben, und die Kinder sollen die Argumente aus den vorgegebenen Kärtchen den ebenfalls vorgegebenen Fakten zuordnen. Irgendwie finde ich das noch perverser, als wenn bei den neuen Unterrichtsstunden zum Thema „Zusammenhalt“ den Spezialoperation erwähnt wird.
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