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Mitspielen

Mir wurde beigebracht, wie man mitspielt. Die Regeln werden zwar von den anderen gemacht, aber du kannst immer mitmischen. Sei schlau und nicht allzu ehrlich; das wird nicht belohnt.

 

Schon in der Schule habe ich angefangen, die Spielregeln selber zu erfinden. In den ersten fünf Klassen habe ich meine Hausaufgaben immer vorbildlich vorbereitet. Ich trug eine Bombenkombi aus dem Bobhaarschnitt, einer Zahnspange und einer dicken Brille. Dazu hatte ich noch einen Einserschnitt. Das Bild einer Streberin war perfekt. Glubschaugen war noch das Netteste, was ich tagtäglich von den Gleichaltrigen gehört habe. Kinder können echt grausam sein.

 

Ich habe aber nie viel geschuftet und immer auf Effizienz gesetzt. Das, was du heute aus jedem Ratgeber schreien hörst, dass zwanzig Prozent der Anstrengung zu achtzig Prozent des Endergebnisses führen, hat mir mein Vater noch in der Grundschule beigebracht, auch wenn er selber ein ziemlicher Perfektionist war. Vielleicht war es für ihn eine Art gemeinsame Therapie, sich selbst so überzeugt darüber reden zu hören, und auch mir dabei was Gutes beizubringen. Drei Fliegen mit einer Klappe. Zudem haben meine überambitionierten Omas mir das Lesen und Schreiben schon mit drei Jahren beigebracht, die Eins-Eins-Tabelle mit fünf. Ich weiß immer noch, wie ich alle meine Spielzeuge im Kreis nebeneinandersetzte und sie hintereinander abfragte. Und selber für sie antwortete. Den Spielzeugen, die ich am liebsten mochte, habe ich die leichteren Zahlen gegeben wie 1, 5 oder gar 10, die 7 und die 8 dagegen gingen an die zwei Barbies; die habe ich nie besonders gemocht, denen gerne die Haare verunstaltet und Beine rausgerissen, um zu gucken, warum sie so biegsam sind.

 

Nun, so war ich also in der ersten Klasse da und kannte bereits all das, was im ganzen Jahr gemacht werden sollte. Die Hausaufgaben wurden also im Nu erledigt, und dann war ich draußen spielen. Oder ich hatte einen von den ganzen Nachderschulekursen: Schwimmen, Tennis, Tischtennis, Malen, Schach, Klavier, Gitarre, Deutsch, Englisch, Italienisch, Rhetorikschule. Ich hatte fast jeden Tag irgendwas zu tun nach der Schule. Das kam mir aber auch gelegen, denn mit den Kindern, die mich entweder gemobbt oder nicht beachtet haben, wollte ich nichts zu tun haben.

 

Als ich mit zwölf das Gefühl hatte, ich hab‘s nicht mehr im Griff, hat mir eine Bekannte erzählt, sie ginge zu einer Psychologin und das würde helfen. Ich habe meine Eltern auch darum gebeten, und sie haben für russische Verhältnisse erstaunlich widerstandlos eingewilligt. Das war mitunter meine wirksamste Therapie bis heute. Nicht nur haben wir in meinem unsicheren Teeniekopf gründlich aufgeräumt und einiges an Müll weggeschmissen, wir haben auch ein paar positive Ideen eingepflanzt und das wenige schöne, was noch zerdrückt am Boden der Psyche lag, wiederbelebt und solange mit neuen Glaubenssätzen begossen, bis es regelrecht in die Höhe schnellte. Seitdem kriegte ich oft zu hören ich sei entweder egoistisch oder narzisstisch. Nach all den Mobbingjahren und all der harten Arbeit nehm ich das mittlerweile als Kompliment auf. Nun wurden aus Glubschaugen, Augen wie bei Kate Moss; aus der Stupsnase eine taffe Animefigur und aus einem Brett ein sportlicher Körper. Und gegen die Augenringe, die wir nicht mehr schönreden konnten, gab’s Mamas Concealer. Wir schauten gemeinsam in den Spiegel und ihre ruhige Stimme wirkte Wunder. Mein Aussehen verwandelte sich in Echtzeit, mein Selbstvertrauen wuchs.

 

Mein Vater pflegte mit mir währenddessen eine alternative Psychologie: die Menschen sind wie Hunde, sie riechen, wenn du unsicher bist.

Also arbeitete ich an mir. Und es trug Früchte. Ich habe meine toxischen Pseudofreundschaften beendet und nur einen Tag später zwei neue Freundinnen kennengelernt, mit denen ich bis heute befreundet bin. Irgendwann bin ich in die coole Clicke reingerutscht, nicht zuletzt, weil meine Eltern uns oft die Bude fürs Wochenende überlassen haben und selber aufs Land fuhren. Dann hatte ich aber keine Zeit mehr für die Hausaufgaben und fürs Lernen überhaupt; mein Vorwissen aus ambitionierter Vorschulzeit hat sich längst ausgeschöpft. Hier begann nun der zweite psychologische Grundsatz meines Vaters zu wirken: erst arbeitest du für den Namen, dann arbeitet der Name für dich.

 

Das System, das wir erfunden haben, war klug. Wir haben uns zu sechst zusammengetan und die Fächer aufgeteilt, wem was am besten lag. Während der Klausuren wurden die Antworten ausgetauscht; je nach Fach haben wir uns anders hingesetzt, um die Antwortenübergabe zu erleichtern. Hausaufgaben wurden ebenso aufgeteilt und in den Pausen der Reihe nach abgeschrieben. So habe ich die Schule mit einem Einserdurchschnitt absolviert, und eine meiner besten Freundinnen auch. Da wir wussten, dass ein paar Klassenkameraden mit den Oligarcheneltern sich den Einserdurchschnitt einfach erkauften, waren wir stolz drauf, dass wir ihn selber abgeschrieben haben.

Manchmal ging das auch schief. Bei den Matheklausuren hatte ich viel Zeit und habe oft beide Varianten gelöst und sie weitergereicht. Einmal hat ein Kollege, der im Arbeitsabschreibteam war, meinen Zettel mit der Lösung zusammen mit seiner Klausur abgegeben. Meine kleine Sauerklauenschrift kannte die Lehrerin leider zu gut. Außerdem stand oben auf dem Zettel: Katja, bist du fertig?. Seitdem hatte ich eine eigene extra schwere dritte Klausurvariante, damit ich nicht mehr auf Ideen komme. Die Arbeitsgruppe musste umstrukturiert werden. Irgendwann hat die Lehrerin auch eingesehen, dass sie zu hart zu mir war, und hat mich wieder auf die normalen Varianten umgestellt. Die Antworten für die anderen schrieb ich nun mit unsichtbarer Tinte, die man mit einer kleinen Lampe beleuchten und so ablesen konnte.

 

Einmal wurde es richtig absurd. Ich glaube, es war eine Physikklausur. Das war so gar nicht meins. Mein Vater als gelernter Flugzeugbauingenieur wollte mir mehrmals helfen, doch er konnte keine Frage konkret und knapp beantworten. Es ging dann immer bis zum Eis zurück, der sich als einziges in der festen Form ausdehnt, oder bis zu Newton mit dem Apfel oder Archimedes in der Badewanne und noch vielem mehr. Das war alles an sich superspannend, nur nach zwei Stunden Zuhören hatte ich dann das Gefühl, gar nichts mehr zu verstehen, und habe ihn irgendwann nicht mehr nach Hilfe gebeten. Also, die Physikklausur; unsere Arbeitsgruppe läuft wie gewohnt, ich schreibe alles ab von dem eingetroffenen Zettel. Wir alle geben die Blätter ab. Bei der nächsten Stunde teilt die Lehrerin die Klausuren aus und beschuldigt meinen Kollegen, dass er von mir abgeschrieben hätte. Nein, es war umgekehrt, sag ich. Wirklich. Das war ein scheiß Gefühl, ihn jetzt hängen zu lassen. Wir alle wissen bescheid, wer hier gelernt hat und wer nicht, sagte die Lehrerin. Ein paar Abschreib-Eingeweihten kicherten leise. Das zweite psychologische Gesetz meines Vaters hat wieder zugeschlagen. Ich habe mir in den ersten Schuljahren ein Streberin-Image aufgebaut, und es blieb an mir kleben, egal wie sehr ich als Teenie dagegen rebellierte. Auch wenn wir in der Pause im Schulhof heimlich rauchten, wurde ich nie verdächtigt. Ach, die stand nur daneben. Das ärgerte manche aus der coolen Klicke: du fährst zweigleisig. Das stimmt. Das mache ich mein Leben lang. Ich spiele das Spiel mit.

 

Ich ging mit meinem Notendurchschnitt wie mit dem Kontostand um. Es musste passen, und es wurde sich so weit angestrengt, wie es nötig war, damit da in jedem Fach am Ende rechnerisch eine Eins rauskommt. Was als Traum meiner überambitionierten Eltern begann, wurde plötzlich zur Voraussetzung der Reise nach Deutschland, und damit zu meinem eigenen Traum nach Freiheit. Als ich dann am letzten Schultag mein Einserzeugnis in der Hand hielt, ging zwei tausend Kilometer weiter irgendwo in München eine unsichtbare Tür für mich auf.

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