Irgendwann Ende letzten Sommers war ich mit meiner Tochter in der Stadt spazieren, nachdem ich sie etwas früher von der Schule geholt habe, weil mich die Lehrerin anrief und sagte, dass meine Tochter den ganzen Nachmittag unfassbar traurig war, weil ein Mädchen aus der Klasse sie die ganze Zeit gepiesackt, beim Spielen ausschlossen und ihre Freunde gegen sie gestimmt hatte; und ob ich früher komen könnte. Ich habe mich schnell an meine eigene Schulzeit erinnert, hab alles liegen gelassen und bin wütend in die Schule gefahren, fest entschlossen, diesem Mädchen und allen Beteiligten den Kopf abzureißen, dass keiner mehr auf die Idee kommt, meiner Tochter sowas anzutun. Es wurde mir rot vor Augen. Und es hielt an. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich gerade in 50er Zone über 80 fahre. Ich hoffe, ich wurde nicht geblitzt.
In der Schule angekommen, habe ich mich einigermaßen beruhigt und entschieden das ganze morgen mit ruhigem Kopf anzugehen; ist meistens tatsächlich die bessere Idee. Ich treffe meine Kleine, drucke sie ganz fest und sage, dass wir alles lösen werden, auch wenn ich selber noch nicht weiß, wie genau, und wir laufen los.
Noch nie ist ihr der Abschied von der Schule so leicht gefallen. Sonst heißt es immer: Mama, du bist zu früh dran. Obwohl ich eigentlich technisch gesehen sogar ein paar Minuten zu spät bin, was ich oft bin, weil das Schulsystem nicht darauf ausgelegt ist, dass beide Eltern Vollzeit arbeiten; meistens sind es die Mütter, die zurückstecken; doch abgesehen davon, dass ich gerne arbeite und auch gerne viel arbeite, wären wir nur mit dem Gehalt von meinem Mann nicht ausgekommen.
Wir liefen nun durch die mittelalterische Altstadt, um ihren Kummer mit paar Kugeln Eis wieder gut zu machen. Es war unfassbar heiß.
Vorne in der Hauptstraße gibt es einen Straßenbrunnen, mit einem ebenen Boden, wo in gleichen Abständen kleine Brünnchen eingebaut sind, die ab und zu Wasserstrahlen hochschießen. Die Kinder lieben es im Sommer. Das ist wirklich eine schöne Abkühlung, auch wenn das Wasser etwas chemisch riecht. Meine Tochter rannte lachend los, schmiss dabei ihre Klamotten und Schuhe nacheinander in einer Kurve hinter sich hin. Ich sammelte alles ein und setze mich daneben in den Schatten.
Dann sah ich sie. Sie saß da, hinter dem Brunnen mit einem abwesenden Lächeln und beobachtete die Kinder, wie sie, viele sich bis auf die Unterwäsche ausgeschält, im Brunnen spielen. Irgendwas stimmte mit ihr nicht. Ich weiß nicht, ob sie auf Drogen oder betrunken war, oder einfach geistig nicht ganz da. Auf jeden Fall war wirkte sie wie nicht von dieser Welt. Ich merkte, wie sich in mir drinnen alles zusammenzog.
Ich musterte sie, und ich war nicht die einzige; ich habe gemerkt, wie auch die anderen Eltern, die um mich herum saßen, angefangen haben, sie anzustarren. Manche haben sogar ihre Kinder aus dem Brunnen geholt und schnell irgendwas erfunden, warum sie jetzt so plötzlich sofort weg müssen. Ich habe die Frau nicht aus meinem Blickfeld gelassen, erweiterte ihn dann auf meine Tochter, wie sie nach dem psychisch komplizierten Tag gelassen und fröhlich im Wasser spielte... Wir bleiben. Ich bin ja schließlich auch da, was kann passieren?
Die Frau stand plötzlich auf, näherte sich dem ganzen Tumult und setzte sich mitten all der Kinder in den Brunnen; mit ihrem kurzen Kleid; machte sich komplett nass, lachte laut und fuchtelte wild mit den Armen. Da könnte sich manches Kind eine Scheibe von dieser ungezügelten Freiheit abschneiden.
Die Kinder sahen sie nun auch. Sie war in der Mitte des Brunnens armefuchtelnd auch nicht zu übersehen. Sie hat sich inzwischen voll ins heraussprudelnde Wasser reingeschmissen und mit einem plötzlich hervorgezauberten Einwegbecher immer mehr Wasser geschöpft und sich dieses hinten und vorne in den Ausschnitt reingegossen. Das sah makaber aus. Gleichzeitig habe ich mich gefragt, warum das eigentlich makaber ist, wenn eine Erwachsene sich wie ein Kind benimmt. Warum wir gleich unterstellen, dass diese Erwachsene auf Drogen ist. Das ist dann auch meistens tatsächlich so, das stimmt schon. Und doch ist da so eine Hemmschwelle in uns. So ein Marker. Ein Erwachsener darf so nicht sein.
Nun ja, die Frau hat jetzt genug gebadet, und setzte sich auf der anderen Seite vom Brunnen auf den Boden. Sie holte eine Kachel raus und hat angefangen ihre Finger darin zu tunken und irgendwas auf dem Boden zu verteilen. Ich habe Kokain noch nie live gesehen; doch das sah mir ganz danach aus. Ich bin aufgesprungen. Fehlalarm. Das waren Aquarellfarben.
Die Frau nahm ihr immer noch halbvolles Einwegbecher und goss das übriggebliebene Wasser über die ganze Aquarellpalette. Die Farben vermischten sich ineinander. Sie tunkte ihre Finger in die Farben und malte einen Regenbogen auf den Boden. Sie lächelte dabei wie ein Kind. Mehr als ein Kind.
Irgendwann wurden die Kinder natürlich auf die Frau mit Farben aufmerksam, inklusive meiner Tochter. Zunächst haben sie eine blaue Aquarellfarbe gefunden, die der Frau wohl beim Spielen im Wasser ausgerutscht ist, und haben angefangen damit zu malen. Sie schielten dabei die ganze Zeit zu der Frau, die mittlerweile schon den dritten Regenbogen finalisierte. Ob ihr wohl auffällt, dass sie ihr eine Farbe stibitzt haben?
Die Frau sah schließlich, dass die Kinder mit der Farbe spielen und lächelte in deren Richtung. Ich bin auf die nächste Habachtstufe gefahren.
Irgendwann winkte sie die Kinder zu sich auf gebrochenem Englisch. Die Kinder näherten sich ihr; sie hatten gar keine Angst vor ihr, sie wirkten eher überrascht. Die Frau im Brunnen überließ den Kindern die ganze Farbenpalette, ging auf die Seite, fasste an die Vitrine des Geschäftes nebenbei, zündete sich eine Zigarette an und schaute durch die Dinge in der Vitrine hindurch, mit dem gleichen abwesenden Lächeln, als wäre er an ihr kleben geblieben. Als sie fertig geraucht hat, kam sie zu den Kindern zurück, und hat sie angefeuert noch mehr, noch weiter zu malen.
Inzwischen habe ich gemerkt, dass noch mehr Eltern den Abgang machten und schaltete innerlich den nächsten Gang. Ich stand auf und näherte mich langsam der Frau und meiner Tochter, die neben ihr saß und eine Blume malte.
Die Frau hat mich angeschaut und gefragt ohne wirklich zu fragen. Mama?
Ja, nickte ich und versuchte aus mir ein Lächeln herauszupressen.
Schließlich tut sie ja nichts Böses. Warum bin ich so angespannt? Ich sage zu meiner Tochter, dass wir gleich los müssen. Die Bahnhof-Suschis warten schon auf uns. Ich bin so hungrig, sie bestimmt auch. Außerdem ist montags die Happy Hour eine Stunde früher als sonst. Danach können wir auch noch zum Supermarkt... Ich rede ohne Punkt und Komma. Jetzt versuche auch ich den Abgang zu machen, so unbeholfen, wie all die Eltern vor mir. Bin ich falsch? Nehme ich meiner Tochter eine schöne Begegnung weg am dem Tag, wo sie dringend eine braucht, oder bin ich einfach nur vorsichtig genug als eine verantwortungsbewusste Mutter?
Ich hörte mich meiner Tochter sagen, sie solle sich ihre Hände waschen. Sie ging in den Brunnen zurück und rieb sich akrybisch die Hände; die Farbe blieb aber hartnäckig unter der Haut. Die Frau näherte sich ihr um ihr zu helfen. Ich schaute zähneknirschend zu. Ich glaube, ich habe sogar vergessen zu blinzeln. Dann küsste sie meine Tocher plötzlich auf die Stirn. Das war zu viel. Wir machten einen schnellen Abgang.
Meine Tochter war etwas stutzig. Ich habe ihr schon im Weggehen zugeflüstert, dass sie mit den Erwachsenen, die sie nicht kennt, aufpassen soll. Auch wenn ich da bin. Und vor allem aber, wenn ich nicht da bin.
- Aber die Frau war doch dobraja.
Dobraja ist Russisch für eine Mischung aus gut, gütig und nett.
- Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Vielleicht hast du recht. Manchmal muss man aber aufpassen und die Grenzen des eigenen Körpers ganz klar nach außen kommunizieren, vor allem bei den Erwachsenen, die du nicht kennst. Das hat was mit Sicherheit zu tun.
Gott, ich klinge nach einem Lehrbuch. Oder nach einem aufklärerischem unter einen Zeichentrickfilm getarntem Youtube-Video für Kindersicherheit. Ich glaube mir selber nicht. Meine Tochter nickt. Ihr kommt es bestimmt auch albern vor, wie ich mich da betont erwachsen gebe. Sie sagt nichts. Stattdessen fragt sie:
- Mochtest du die Frau nicht?
- Nein, das ist es nicht. Ich weiß nicht, ich finde sie seltsam. Ich kann sie irgendwie nicht einschätzen.
Meine Tochter dachte drüber nach:
- Ja, die meisten Erwachsenen, wenn sie selber mit den Farben malen würden, hätten die Kinder geschimpft, wenn sie ihre Farben genommen hätten.
Weil sie sich in ihr ernstgemeintes Kunstwerk eingemischt hätten… Diese Kinder, die einfach leben und schaffen können. Ich habe müde gelächelt.
- Das stimmt. Die Frau, sie hat alles mit euch geteilt.
- Sie war so dobraja.
- Vielleicht hast du recht. Wirklich. Aber findest du es nicht komisch, dass diese Frau selber, ohne Kind, da mit den Kindern spielt und die Farben dabei hat?
Zwischendurch schoß mir ein Gedanke durch den Kopf, ob so ein Mensch nicht auch selber gerne Kinder hätte und sich stattdessen als Ersatz jetzt ein bisschen wie ein Kind fühlen möchte, dennoch führte ich meinen vorgefertigten Vorurteil zu Ende aus.
Meine Tochter dachte anscheinend das gleiche wie ich:
- Kann es sein, dass die Frau selber Kinder möchte und keine haben kann?
Erstaunlich erwachsen.
- Ich weiß es nicht, brachte ich nur heraus, Das weiß ich nicht.
Wir schwiegen ein bisschen.
- Die Frau sprach russisch, sagte meine Tochter plötzlich.
Wir haben viele russischsprachige Geflüchtete aus Odessa in unserer Stadt, Partnerstadt über die Donau.
Ich möchte gar nicht wissen, dachte ich mir, warum diese erwachsene Frau alleine mit den Farben ein Regenbogen auf dem Boden malt. Ich möchte gar nicht wissen, was ihr im Leben widerfahren sein sollte, dass sie mit diesem verstreuten Lächeln Kontakt zu den anderen Kindern sucht.
Mit diesen gemischten Gefühlen liefen wir weiter und holten schließlich die von mir als Abgangsbeschleuniger versprochenen Suschis vom Bahnhof. Zu Hause angekommen, dachte ich mir, dass ich nicht oft genug dankbar bin. Für das, was ich habe.
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