· 

Wir müssen reden

In derselben Straße, wo wir früher in Regensburg wohnten, wohnten auch zwei Graffitis, die ziemlich lange nicht übermalt wurden. Wenn man in die Straße abbog, konnte man Think! Feel? Do. bestaunen; was auf den ersten Blick zwar socialmediazitatmäßig klang, dennoch wenn man sich dem innerlich näherte, fand man Futter zum Nachdenken. Man achte vor allem auf die Satzzeichen: Eine Aufforderung zum Denken, ein Abgleich mit innerem Einklang und ein stiller Aktionsaufruf ohne Nachdruck, weil es quasi keine Anstrengung ist zu handeln, wenn es den inneren Werten entspring(ch)t. Zweihundert Meter weiter sprach der zweite Straßenbewohner zu uns: Mehr Streit. Weniger Hass. 

 

Wie es so schön heißt: Wir müssen reden.

 

Global.

 

Mehr miteinander reden, diskutieren, sich mit anderen auseinandersetzen, streitend zuhören, argumentieren, Meinung kundtun, sich angreifbar machen.

 

Weniger in sich hineinfressen, weniger Abkapselung, weniger Bubbles, weniger unerschütterliche Urteile, weniger Rechthabereien, Wutparolen und Diskurshoheiten. 

 

Wir brauchen eine Agora, so wie sie die antiken Griechen hatten. Eine richtige haptische Agora, ein Ort mitten in der Stadt, wo jetzt in jeder Großstadt stattdessen ein Einkaufszentrum steht. 

 

Wir brauchen einen Ort, an dem wir ins Gespräch kommen, auch mit den Andersdenkenden und uns ungeschützt, ohne die bequeme Anonymitätswand der sozialen Medien hinstellen und miteinander reden, in einen echten Dialog treten, ohne Bots und Algorhitmen.

 

Soziale Medien wurden von einem amerikanischen Philosophieprofessor schon vor über zwanzig jahren als Echokammern bezeichnet; Orte, an denen wir unsere Meinung ins digitale Nichts schicken, und die Algorhithmen umhüllen uns daraufhin blitzschnell mit einer bequemen Realität, in der alle unsere Meinung teilen. Wir schreien hinein und es hallt millionenfach zurück. 

 

Die Echokammern bestätigen uns nicht nur in unserer Meinung, sie bestätigen uns in den Ängsten und negativen Erwartungen. Als ich zusammen mit meinen ukrainischen und russischen Aktivistenfreundinnen einen Instagramaccount der “Russisch-Ukrainischen Friedensbewegung” führte (gegen den Krieg, für Unterstützung der Ukraine und der russischen Opposition und Politgefangenen), durfte ich einiges an Kommentaren lesen. Es gab auch Morddrohungen. Ich musste mich jedesmal innerlich überwinden, wenn ich auf die Straße ging. Hassen mich all diese Leute wirklich, nur weil ich in Russland geboren wurde, auch wenn ich dieses menschenverachtende Regime und den darausfolgenden Krieg nicht unterstütze? Werde ich gerade schief angeschaut, während ich mit meiner Tocher Russisch rede? Und während es auf Instragram täglich Pfeile hagelte, gaben mir die Deutschen auf der Straßendemo die Hand und die ukrainischen Mütter umarmten mich auf dem Spielplatz. Es waren zwei getrennte Welten, und die echte Welt da draußen hat mich vor einem großen Loch gerettet und mir überhaupt die Energie gegeben weiterzukämpfen. 

 

Apropos, Spielplatz. Ich finde, dass es sehr pure, ungebubbelte und produktive Orte sind. Das sind Orte, an denen sich Kinder aus allen sozialen Schichten treffen und miteinander interagieren. Wir brauchen dringend sowas für Erwachsene. Einen Spielplatz. Eine Agora. Hat jemand eine Idee?

Kommentar schreiben

Kommentare: 0