Doro und Simon saßen am höchsten Fenster des Goldenen Turms, gemütlich aneinander gekuschelt, und schauten auf den Haidplatz, der sich allmählich mit Menschen füllte. Die Kirchenglocken läuteten.
Doro nickte im Takt der Schläge:
- Elf und zwölf.
Simon drehte sich verwirrt zu ihr hin.
- Hast du mich noch nie zählen hören? Seit Corona zähle ich immer die Glockenschläge. Es war am Anfang noch so ruhig, so wenig Menschen waren unterwegs. Da habe ich sie gehört, die Glocken, zum ersten Mal. Und das obwohl ich mein ganzes Leben in Regensburg verbracht habe. So ein Mitteraltergefühl irgendwie, früher haben bestimmt alle aufgehorcht, als es läutete.
- Bestimmt. Simon schien abwesend. Er saß da und starrte durch die Gebäude hindurch. Als wäre nur noch sein Körper da, aber seine Seele - wenn’s überhaupt eine gab - samt Gedanken ganz wo anders.
- Simon, ist was los? Doro kuschelte sich noch näher heran, als würde sie aus seinem Herzklopfen raushören wollen, was da los war. Seit Tagen ging‘s ihm sichtbar nicht gut. Und das ohne einen erkennbaren Grund. Es lief doch alles gut. Die Befruchtung hat scheinbar endlich geklappt. In zwei Wochen wissen sie mehr. Ist er deshalb so nervös? Das wird schon, sie hatte dieses Mal ein wirklich gutes Gefühl. Hatte er Angst, dass es wieder daneben geht? Oder… Verheimlicht er ihr etwas?
Die Glocken begannen wieder zu läuten. Seit fünfzehn Minuten sitzen wir nur da und starren ins Nix - schoss es Doro durch den Kopf. Doch der zweite Glockenschlag ging in einem surrenden, tiefen, noch nie dagewesenen Geräusch unter. Was war das?
Simon schien es aus seinen Gedanken auf ein Schlag rausgerissen zu haben. Seine Augen wachten auf und irrten nur hin und her durch den Haidplatz.
- Doro, da ist dein… Porträt. Schau, sie halten ein… Bild… von dir. Da, dieser Mann mit dunklen Locken und einer blauen Mütze.
- Da auch, schau. Die Junge Frau mit der Brille und der Maske. Wie sie darin atmen können, ist mir echt ein Rätsel. Ausserdem beschlägts die Brille doch dauernd.
- Aber Doro… warum?
- Woher soll ich das denn wissen, warum? Ist doch cool. Wollen wir runter?
- Bist du verrückt? Was, wenn nach dir gesucht wird? Hast du was angestellt?
- Nein. Gar nichts. Obwohl… ich hab Herrn Riedl gestern ein halbes Brötchen geklaut, aber das macht doch nichts. Er ist ein Netter. Komm, Simon. Los!
Doro flog blitzschnell runter. Simon strecke die linke Flügel raus, drunter war es. Was seit Wochen wuchs und schmerzte. Das, was auch seinen Vater umbrachte. Auch?
Simon flog ihr nach. Der Wind vibrierte angenehm unter den Federn. Es tat kaum noch weh. Er landete auf die seit Ewigkeiten verdeckte Brunnenstatue. Wo war Doro? Es waren Bilder von ihr überall. Das war unheimlich. Die Menge rief etwas. Es klang fremd, eine andere menschliche Sprache war das wohl. Sehr grelle Farben, gelb, blau, weiß, rot, weiß, blau, weiß... Plötzlich sah er sie. Sie krallte sich an einem Bild von ihr fest. Das ist ein Zeichen! rief jemand auf Deutsch. Ein gutes Zeichen! Die weiße Taube bringt Glück.
Und hoffentlich Frieden, rief noch jemand aus der Menge.
Doro genoss es sehr. Die Rampensau, war sie immer schon. Die einzige bis auf die kleinste Feder schneeweisse Taube im ganzen Großraum Regensburg. Das macht eitel. Und dann fühlte sie sich ihm hingezogen, einem Normalo mit großem Herzen. Sie zwinkerte Simon zu. Oder hat er's sich nur eingebildet? Der Schmerz pulsierte immer stärker unter dem linken Flügel. Er hat sich beim runterpikieren wohl überschätzt.
Plötzlich heulten die Sirenen. Die Menschen hörten auf zu rufen und schauten zu den sich immer schneller nähernden Autos mit blau-gelben Streifen. Die Demonstration hat die zulässige Teilnehmerzahl überschritten. Lösen Sie sie umgehend auf.
Die Menschen rannten unkontrolliert in alle Richtungen wie ein Haufen Ameisen. Simon sah Doro, am Bild festgekrallt, um die Ecke verschwinden. Den Menschen kann man doch nicht blind vertrauen, da hat er schon Dinge gesehen… schneller. Was ist das? Da ist wieder der goldene Turm, flog ich etwa im Kreis? Dieser Schwindel macht mich wahnsinnig. Er hat‘s verstanden. Aber es war zu spät. Ein Aufprall. Wie dumm. Wie dumm geht das ganze zu Ende. Noch ein Aufprall. Dann alles schwarz.
Herr Riedl beendete gerade seine Putzrunde. Schon wieder eine tote Taube. Er blickte zum Restaurant. Warum müssen sie ihre Fenster immer so herausputzen? Da laufen doch Menschen bestimmt auch ab und zu dagegen. Er schnappte Simon mit seinem langen Abfallgreifer und packte ihn in den Müllsack.
Doro realisierte erst drei Straßen später am Neupfarrplatz, als die Kirchenglocken einmal läuteten, dass sie immer noch auf ihrem Bild mit weißem Hintergrund und blauem Streifen in der Mitte saß.
Simon! Sie flog ruckartig hoch, das Mädchen, das das Bild hielt, schrie auf. Hat sie etwa vergessen, dass sie keine Atrappe ist?
Doro segelte in scharfen Kurven um die Strassen. Das Goldene Turm. Sie flog haarscharf am Restaurantfenster dabei. Uf. Glück gehabt. Simon brütet bestimmt, dache sie beschämt. Sie muss ihn auch unbedingt fragen, was mit ihm los ist. Wenn sie schon gemeinsam die Küken großziehen wollen, dann müssen sie mit offenen Karten spielen. Egal, was es ist.
Herr Riedl schaute zum Goldenen Turm, an dem eine weiße Taube vom Fensterbrett zum Fensterbrett flog. Der Frieden ist ins Wanken gekommen. So ruhelos wie diese Taube. Ob sie Essen sucht? Die Taube näherte sich. Er holte eine halbe Breze aus der Tasche und verstreute sie am Boden. Die Taube haderte. Als würde sie sich schämen, dachte er.
Na komm, ich tu dir nichts. Komm her.
Doro konnte kaum schlucken vor Aufregung. Wo ist Simon nur geblieben? Vielleicht sucht er sie immer noch in der Menschenmenge? Sie bleibt lieber am Goldenen Turm und wartet auf ihn.
Herr Riedl grinste zufrieden, na schmeckts? die weiße Taube betrachtend, und zog mit seinem Müllsack davon.
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