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20 und 1 These, die niemandem gefallen würden

Gedanken zum Streit von Trump und Selenskyj

 

1. Niemand schaut mehr wirklich hin.
Die meisten Menschen gehen nicht unvoreingenommen in den Diskurs, egal ob öffentlich oder am Küchentisch. Sie schreiben sich eine politische Identität zu und suchen nach Bestätigung derer. Salopp gesagt: Wer links ist, unterstützt Selenskyj, wer rechts ist, Trump. Das bedeutet aber nicht, dass man sich die Argumente tatsächlich anhört – man appliziert einfach die eigene vorgefertigte Meinung auf das Geschehen.

 

2. Kritik an einem Politiker bedeutet nicht, dass man automatisch den anderen unterstützt.
In den heutigen Debatten gibt es nur noch Lagerdenken. Wer Trump kritisiert, wird automatisch als Selenskyj-Anhänger gesehen und umgekehrt. Also trauen sich viele nicht den eigenen Politiker zurecht zu kritisieren, weil man dadurch in den falschen Lager gesteckt werden könnte. Diese Mechanik verhindert jede ernsthafte Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Argumenten und Taten.

 

3. Trump will Frieden – und das ist erst mal gut.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Trump nicht aus moralischen Gründen Frieden will. Aber er will ihn. Und wenn Frieden das Ziel ist, dann ist es erst mal positiv, dass jemand diesen anstrebt – unabhängig von den Beweggründen. 3 Jahre lang ist nichts passiert, und jetzt bewegt sich endlich was. 

 

4. Selenskyj hat recht – Putin ist ein Kriegsverbrecher.
Diese Aussage ist faktisch korrekt, ich würde sie auch unterschreiben, doch die Frage ist, wann und wo sie fallen sollte. In einer Verhandlungssituation vor laufenden Kameras aus der Position des Bittenden ist das kontraproduktiv.

 

5. Trump benutzt die Anwesenheit der Presse für die Machtdemonstration.
Trumps Diplomatie basiert in letzter Instanz auf strategischem Kalkül und seinem eigenen politischen Vorteil. Und er hat ein großes Ego. Ein wirklich großes. Ein außerordentlich großes Ego. Das größte Ego, das man je gesehen hat.

 

6. Selenskyj hat Diplomatie mit moralischer Konfrontation verwechselt.
Ein Präsident ist kein Meinungsblogger. Er repräsentiert ein Land. Selenskyj hat in Hitze des Gefechts scheinbar vergessen, dass seine Worte nicht nur ihn betreffen, sondern Millionen von Menschen, die von seinen Entscheidungen abhängen. 

 

7. Kaum jemand, wer über den Streit spricht, hat die 50 Minuten gesehen.
Die meisten Kommentare basieren auf Zusammenfassungen, die sich meistens nur auf die letzten zehn Minuten konzentrieren, wo das ganze eskaliert ist. Fast alle Berichterstattungen ignorieren, wie sich die Konfrontation über die Zeit tatsächlich entwickelte. Wenn man dann nur noch einen zehn Sekunden Ausschnitt sieht, wo Trump laut unterbrechend mit dem Finger mahnend gegen Selenskiy wedelt, hat man ein falsches Bild von diesem Streit. Wer das Video nicht komplett gesehen hat, redet über ein Narrativ und nicht über den Streit selbst.

 

8. Die Presse hat gezielt provoziert.
Journalisten stellten bewusst Fragen, die die Debatte emotional aufheizten  – das ist zwar ihre Aufgabe, aber es war abzusehen, dass es eskaliert. Vielleicht sollte sich da jeder selbst an die Nase fassen, was man als Reporter zum Streit beigetragen hat, der viele Menschenleben kosten könnte. Besitzen Sie überhaupt einen Anzug, Herr Selenskyj?

 

9. Diplomatie ist kein Social-Media-Duell.
Wir sind daran gewöhnt, in sozialen Netzwerken zu streiten. Aber Diplomatie funktioniert nicht wie Twitter, (auch wenn Trump dort gerne seine Entscheidungen verkündet). Diplomatie existiert genau deshalb, um Eskalationen zu verhindern – damit nicht zwei Staatschefs sich öffentlich anschreien und daraus ein echter Konflikt wird. Dafür existieren Diplomaten und Konsulate, sonst wären wir ständig in Kriegen miteinander wegen kulturellen Differenzen und Missverständnissen.

 

10. Diese Debatte hätte nie öffentlich geführt werden sollen.
Diplomatie ist kein Wahlkampf. Wer langfristige Lösungen sucht und unterwegs merkt, dass man sich noch nicht einig genug ist, verhandelt hinter verschlossenen Türen und präsentiert dann das Ergebnis – nicht den Streit.

 

11. Trump hat vieles strategisch heruntergespielt
Er wollte die Eskalation vermeiden und hat mehrere Angriffe von Selenskyj und der Presse bewusst nicht zugespitzt. Natürlich aus Kalkül. Doch das ist eigentlich auch die Diplomatie.

 

12. Der Streit eskalierte durch Vance.
Vance behauptete, Trumps bisherigen Aussagen nur zusammenzufassen, formulierte sie aber so, dass sie Selenskyj provozierten. Danach ging der Streit los.

 

13. Selenskyjs Reaktion war diplomatisch katastrophal.
Er nannte den Vizepräsidenten „J.D.“ und fluchte zwischendurch auf Ukrainisch (sinngemäß fuck it) – ein Fauxpas auf höchster Ebene.

 

14. Ein Übersetzer hätte Selenskyj geholfen.
Argumentieren in einer Fremdsprache schwächt die Position. Selenskyj musste sogar während des Gesprächs nachfragen, was bestimmte Begriffe bedeuten. In einer hochsensiblen, internationalen Auseinandersetzung sollte man sich diesen Nachteil nicht leisten.

 

15. Idealismus kann in der Diplomatie ein Nachteil sein.
Selenskyj argumentierte aus moralischer Perspektive. Das ist verständlich, aber in einem realpolitischen Konflikt nicht zielführend. Diplomatie bedeutet nicht, alles zu sagen, was man denkt. Putin ist ein Kriegsverbrecher – aber wenn man mit ihm verhandeln muss, sollte man ihn nicht öffentlich so bezeichnen, wenn das dann den Gesprächsraum schließt. (Trump hat Selenskyj übrigens auch vor Tagen Diktator genannt, das war auch eine unnötige (wahrscheinlich aus Trumps Sicht strategische) Konfrontation. Das war unnötig gefährlich und streitstiftend. Aber in Trumps Welt können die Aussagen dann auch wieder verschwinden. Habe ICH das gesagt?)

 

 

16. Trump sollte doch wissen, dass Selenskyj emotional reagieren könnte.
Ich denke nicht, Trump hat Selenskyj absichtlich ins Messer laufen lassen, schließlich hat ihm der Zoff nichts Positives gebracht, aber so stragetisch, wie Trump sonst kalkuliert, ist es seltsam, dass er zugelassen hat, dass dieses Treffen vor der Presse stattfinden konnte. Das lässt bei mir so einige Fragen offen.

 

17. Trumps Strategie könnte die Ukraine langfristig schützen.
Statt militärischer Präsenz könnten massive wirtschaftliche Investitionen Amerikas in der Ukraine eine langfristige Sicherheitsgarantie sein. Dieses Deal ist kein Wegnehmen, sondern eine Zusammenarbeit. Eine amerikanische Firma könnte mehr Sicherheit bieten als eine Armee. Wenn ein milliardenschweres US-Unternehmen in der Ukraine aktiv ist, würde Amerika es mit allen Mitteln schützen, und Putin würde es (hoffentlich) nicht wagen, sich mit Amerika anzulegen. Putin könnte es an seine Oligarchen besser verkaufen, dass vor der Grenze ein Unternehmen steht und keine Armee, was widerrum Eskalationspotenzial langfristig mindern könnte. Ein kapitalistisches Interesse kann eine funktionierende Sicherheitsstruktur bieten. Natürlich will sie Trump (noch) nicht als solche öffentlich benennen, um es Putin als eine gute Lösung für alle verkaufen zu können, aber das kann und sollte man bei dem Deal zwischen den Zeilen lesen.


18. Die Welt braucht eine Mischung aus Realpolitik und Idealismus.
Ohne Idealismus hätte es kein Frauenwahlrecht gegeben. Wir hätten immer noch Sklaverei, Unterdrückung großer Menschengruppen, ganz viele Atombomben und keine soziale Gerechtigkeit.

Aber ohne Realpolitik lassen sich manche Konflikte nicht beenden.

Ein festgefahrener Krieg ist ein Fall für die Realpolitik. Wenn der Krieg vorbei ist, ist Idealismus wieder dran - da können wir gerne über bessere und gerechtere Zukunft diskutieren: Sobald keine Menschen mehr sterben.

 

19. Nicht jeder Idealismus führt zu einem guten Ergebnis.
Manche idealistischen Ansätze meinen es gut, aber wir sollen die echte Welt und das echte Leiden in dieser Welt höher stellen, als unsere moralische Bequemlichkeit. Das ist wirklich ernst. Solange wir nach außen eine bequeme Position verteidigen, weil wir uns in der wahren Position, die wir insgeheim vertreten, unwohl fühlen, tragen wir dazu bei, dass die Welt in eine Richtung driftet, die uns zuwieder ist. Machen es viele, leben wir in einer Welt, hinter der wir alle nicht mehr stehen, und die wir alle wehement nach außen verteidigen, damit unsere selbstaufgebürdeten Labels umso fester an uns kleben, bis sie uns tief in die Haut hineinwachsen und Wurzeln schlagen.

Der Krieg und die dort sterbenden Menschen - sie sterben jetzt. gerade. und jetzt. - dieser Krieg ist kein Spielplatz für moralische Selbsthuldigung. 

 

20. Die unbequeme Wahrheit: Kriege werden nicht mit Moral beendet, sondern mit Verhandlungen.
Die Ukraine hat das moralische Recht auf Widerstand, Putin ist ein Kriegsverbrecher und hat einen Angriffskrieg gestartet, für den es keine Entschuldigung gibt; das ist alles wahr, aber die Realität erfordert gerade jetzt realpolitische Lösungen. Ohne Verhandlungen wird der Krieg weitergehen – und noch mehr Menschen werden sterben. Die Frage ist nicht, wer hier moralisch im Recht ist, sondern wer eine Strategie hat, um das Blutvergießen zu beenden und das auch bestmöglich langfristig zu sichern.

 

Plus 1. Update: Annäherung zwischen Trump und Selenskyj.
Seit Trump an der Macht ist, passieren nachts Dinge, die jeden Morgen in zwanzig Eilmeldungen in meinem Handy münden. Nun gibt es einen Funken Licht am Ende des Tunnels: Selenskyj ging nach der von Trump gekappten Militärhilfe in einem sehr bedacht formuliertem Post auf Trump entschuldigend zu, und Trump hat diesen Post gestern Nacht in seiner Parlamentsrede verlesen und appreciated. Was morgen kommt, kann wieder alles Geschriebene auf den Kopf stellen. Irgendwie passt hier kein Abschlusssatz. Pling. Ich gehe die Nachrichten lesen.

 

Update vom 3.4.25:

Mittlerweile können wir beobachten, wer wirklich die Friedensverhandlungen verhindert. Spoiler: Das ist nicht Selenskyj. Bleibt abzuwarten, wie lange Trump sich von Putin an der Nase herumführen lässt.

 

Zudem konnten wir durch den Signal-Chat-Leak inzwischen sehen, dass Trumps Team nicht wirklich strategisch zu planen scheint, sondern genauso populistisch ist, wie es sich nach außen gibt.

 

Dass Putin ohne Druck seitens Trump höfflich-freundlich auf Zeit spielt, überrascht mich nicht. Ich bin davon ausgegangen, dass Putin nach der Einigung mit Selenskyj bei Trump dran ist. Das ist so noch nicht geschehen.

 

Putin hat seine Wirtschaft längst auf Krieg umgestellt und will nicht die Soldaten mit PTBS wieder zurück. Bleibt nur abzuwarten, ob Trump noch einen As im Ärmel hat, der Putin vom Krieg abhalten könnte.

 

Sieht derzeit nicht danach aus. 

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