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Wie wurde Russland totalitär

Wie konnte es dazu kommen, dass sich Russland zu einem totalitären Staat entwickelt hat? 


Ein zentraler Punkt ist sicher, dass die Sowjetunion ihre Wunden nie überwunden hat. Die Gesellschaft hat nie wirklich aufgearbeitet, was mit ihr im Laufe der Geschichte passiert ist. Und dabei ist es fraglich, ob das überhaupt erst mit der Sowjetunion begann, oder ob die Sowjetunion selbst nur möglich war, weil die russische Gesellschaft ohnehin kollektivistisch veranlagt war. Das wäre eine spannende Forschungsfrage. Was aber sicher ist: Durch die Sowjetunion – und spätestens dort – wurde diese Gesellschaft extrem kollektivistisch. Das einzelne Menschenleben zählte wenig. Auch unter Stalin, auch im Zweiten Weltkrieg. Und wenn man sieht, wie Putin heute agiert, kann man nachvollziehen, dass das menschliche Leben weiterhin nicht viel zählt. Es scheint, als hätte es auf diesem Fleck der Erde noch nie getan.


Der Kollektivismus basiert darauf, dass alle irgendwo gleich sind. Doch aus dem Zarismus blieb die Idee bestehen, dass ein einzelner, starker Mann – der Zar – diese gleichgeschaltete, kollektivistische Gesellschaft in eine bessere Zukunft führt. Wer aufbegehrt, verletzt damit nicht nur die Rechte des Zaren, der diese Rechte eigentlich ja auch gar nicht haben sollte; sondern auch die Rechte aller anderen, die in diesem System mitdrinhängen. 


Diese Denke macht die Gesellschaft anfälliger für Diktaturen. Es war schon immer schwer, sich gegen das Regime zu stellen. Die wenigsten Menschen sind Helden, und das wird sich auch nie ändern, egal in welchem Land. In Russland kommt aber noch etwas anderes dazu: eine seltsame Mischung aus nicht verarbeitetem Zarismus und einem Kollektivismus, der als etwas Positives verstanden wird.


Das Ironische daran ist, dass dieser Kollektivismus in manchen Bereichen sogar eine Art Gleichberechtigung geschaffen hat. Zum Beispiel hatte ich nie das Gefühl, dass Frauen in Russland weniger konnten als Männer. Bevor ich nach Deutschland kam, war Feminismus für mich nie ein Thema. Frauen konnten arbeiten, Frauen konnten wählen. Männer konnten arbeiten, Männer konnten wählen. Wer darunter litt, waren die Kinder. Sie wuchsen in staatlichen Kinderkrippen auf, sahen ihre Eltern kaum. In den 60ern, 70ern, 80ern war das normal. Eine ganze Generation wuchs so auf – auf sich allein gestellt, weil weder Mütter und umso weniger die Väter auf die Kinder hätten aufpassen können. Die Frauen kochten in der Regel auch noch nach dem Vollzeitarbeitstag und schmissen den Haushalt. Bis hierhin kam dann die Gleichberechtigung nicht.


Dieses System schuf eben weniger eine Gleichberechtigung, eher eine Gleichschaltung – und gleichzeitig das Gefühl, dass man einzigartig ist, weil wir alle so gleich sind. Weil wir uns alle so nah sind. Weil wir eine russische Seele haben. Eine paradoxe Mischung, in die sich faschistoide Ideen nahtlos einfügen können. Die Idee der russischen Welt, die Putin propagiert, knüpft genau dort an. Das ist kein Zufall.


Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Sowjetunion in Trümmern. Millionen Tote, Millionen Verwundete, Familien, die es nicht mehr gab. Doch es gab keine Aufarbeitung. Es gab auch keine echte Erinnerungskultur. Der Tag der Erinnerung, ursprünglich als Trauertag gedacht, wurde schnell zu einem militärischen Kult mit Panzerparaden. Die Menschen wurden in eine wirre Ambivalenz gestoßen, und das Trauern wurde durch die Jahre vom Feiern verdrängt. Das Feiern wird durch die neueren Kriege auch immer mehr in den Vordergrund gezogen, damit die Menschen nicht auf Ideen kommen, gegen die jetzige Führung aufzubegehren.


Als Stalin starb, weinten alle. Die Hälfte aus Trauer, die Hälfte vor Freude. Diese Anekdote aus der Zeit stimmt leider nicht ganz. Viele konnten sich gar nicht vorstellen, wie das Lebens ohne des Vaters der Völker aussehen könnte. Und doch nach anfänglichen Querellen in der neuen Führungsriege, sahen sich letztendlich viele aufatmen, als Chruschow den politischen Kannibalismus und Todesstrafe abgeschaffen hatte, und auch selber - das ist bezeichnend - friedlich in der Rente alt wurde. Doch trotz anfänglicher Euphorie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, den ganzen Wirtschaftsreformen und Demokratieanfängen, lauerte der unverarbeitete Zarismus im Hinterkopf.


Psychologische Aufarbeitung? So gut wie nicht existent. Zum Therapeuten zu gehen, ist in Russland immer noch mit einem gesellschaftlichen Stigma belegt. Stattdessen lebte man einfach weiter – in Verdrängung.


Und hinter all diesem pompösen Aufbau versteckten sich die wahren Feinde. Putin baute seine Bande langsam auf, das ganze unter dem Deckmantel des demokratischen liberalen weltoffenen Staates.


Viele russische Oppositionelle sagen, dass die letzte echte Chance auf einen Umbruch 2011/2012 war; und als Bolotnaja Proteste unterdruckt wurden, ist der Zug abgefahren. Damals gingen mehrere Hunderttausende Menschen auf die Straßen – es hätten aber Millionen sein müssen. Politiker wie Ilja Jaschin, Alexej Nawalny und Boris Nemzow warnten noch vor der Annexion der Krim vor dem Ukrainekrieg. Sie warnten auch die europäischen Politiker. Doch Putin lächelte auf den roten Teppichen und machte Merkel mit seinem netten Hund bekannt. Alle schauten weg.


Nemzows Rede auf einer dieser Demos muss man sich ansehen. Ich fragte mich, ob es echt von 2015 war, als ich das sah. Er sagte im Prinzip alles, was unser Stand 2022 war. Nemzow wurde kurz danach 2015 ermordet. Direkt vor Kremlins Mauern. Er war einer der ersten Toten dieses Krieges.


Ich höre in Deutschland oft Argumente wie: Ja, aber die NATO-Osterweiterung… oder Ja, aber die Ukrainer sind ja auch nicht ohne… Und an dieser Stelle möchte ich eine Bemerkung machen: Das hat nichts mit Diskussionsverweigerung zu tun. Es gibt eine Zeit für alles. Wenn dieser Krieg vorbei ist, wenn er hoffentlich einigermaßen zugunsten der Ukraine endet (wonach es derzeit aber ehrlich gesagt überhaupt nicht aussieht), dann könnten wir über eine produktive Zukunft sprechen. Dann können wir diskutieren, wie ein Miteinander funktioniert. Aber solange dieser Krieg läuft, solange Menschen täglich sterben, halte ich es für falsch, die Diskussion darauf zu lenken, wer in der Vergangenheit welchen Fehler gemacht hat. Das ist die Aufarbeitung, die später nötig sein wird, keine Frage.


Aber wir müssen unseren Fokus, der in dieser überbeschallten Informationsblase endlich ist, auf heute lenken. Wer heute was anders machen kann, was bewirken kann, das ist total legitim zu fragen. 


Ich habe viele ukrainische Freunde, die Kritik an der Korruption in ihrem eigenen Land geübt haben, mit dem alleinigen Ziel sicherzustellen, dass die westlichen Hilfen auch wirklich ankommen. Einige haben dafür massiven Gegenwind bekommen – auch von anderen Ukrainern.


Ich bekomme selbst Hassnachrichten. Mir wurde auch schon auf Instagram (ich habe den Account samt aller meiner Social Media Kanälen zwecks Achtsamkeit vor einem halben Jahr gelöscht) Tod gewünscht. Das hat mich eine Zeit lang fertiggemacht. Ich reagierte oft emotional, aber bevor ich zur Tastatur griff, hielt ich inne, und entschied: Ich schieße nicht dagegen zurück. Ich verstehe, warum es diesen Hass gibt. Ich verstehe aber auch, dass wir nicht aufhören dürfen, genau hinzuschauen. Denn das, was nach dem Krieg kommt, wird uns alle betreffen.


Eine Sache, die ich in dieser Zeit gelernt habe: Es geht nicht um Zensur oder Selbstzensur. Es geht darum, wann und wie man über etwas spricht. Man kann und soll über alles reden, aber man soll sich schon etwas bedachter an den Rahmen herantrauen, wenn man gehört und verstanden werden möchte, wenn man gemeinsam etwas bewirken und nicht nur streiten möchte.


Trotzdem müssen wir ehrlich bleiben. Ich habe leider gelernt: Komplexe Themen kann man nicht auf Demos ansprechen. Auch nicht in Online-Kampagnen auf Social Media. Aber vielleicht geht es in der Kunst? dachte ich mir. In der Kunst kann man Dinge mehrdeutig machen. Und Mehrdeutigkeit, das habe ich in meinem Regiestudium gelernt, unterscheidet sich von der Beliebigkeit. Und das ist eine ganz wichtige Unterscheidung, weil die Beliebigkeit bedeutet, dass eine Sache keinen Kontextraum hat, das sie so ungefähr alles sein könnte; und natürlich mit solchen Aussagen ist es dann die Frage, was man damit bezwecken möchte. Eine ganz andere Sache ist es, wenn man gewisse Dinge mehrdeutig macht oder wenn man mehrere Standpunkte in den Raum wirft, im Bezug zueinander, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Und das habe ich leider nicht nur auf friedlichem Weg erst herausgefunden, sondern wo wir an dem Gegenteil gescheitert sind. 


Ich weiß, dass es auch in Deutschland Themen gibt, über die wir nicht ehrlich sprechen. Wir halten oft an politischen Lagern fest, anstatt wirklich über die Inhalte zu reden. Ich habe erlebt, dass wir in der Kunst Dinge aus Inszenierungen streichen mussten, weil sie von den Falschen missverstanden werden könnten. Ich wäre bereit, weiter zu forschen und zu schauen, ob es denn wirklich so wäre. Aber es herrschte eine panische Angst, sodass ziemlich überstürzt gewisse Dinge einfach gestrichen worden sind. Niemand hat es überprüft. Die Angst war größer als der Wunsch nach künstlerischer Auseinandersetzung. Diese Angst lähmt uns. Und wir machen uns damit selbst mitschuldig.


Wir schauen uns immer nach dem Ton der Äußerungen um uns herum um, in der Hoffnung, dass jemand was sagt, was in unsere Richtung zufliegt. Und das macht dann keiner, weil wir alle aufeinander warten. Und wenn‘s einer macht, applaudieren wir innerlich, zeigen‘s aber nicht nach Außen aus Angst ins falsche Lager gesteckt zu werden.


Aber irgendwann müssen wir reden. Und wer kann, sollte jetzt schon damit anfangen. Denn wenn wir uns weiterhin weigern, echte Diskussionen zu führen, wenn wir weiter nur in Lagern denken, wenn wir Angst haben, dass die Falschen etwas aufgreifen – dann werden wir nie über die Dinge sprechen, die wirklich zählen. Nie wirklich rausfinden, was da alles unverarbeitet in uns lauert und ausdiskutiert werden muss. Dann werden wir alles verdrängen. Bis es wieder zu spät ist.

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