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wahrletztlich

Die Kunst ist der Rand des Zusammenbruchs. Keines offensichtlichen, lauten Zusammenbruchs, sondern einer leisen Implosion, die sich nicht unbedingt im Außen zeigt. Sie ist das Vibrieren unter der Oberfläche. Die Wahrhaftigkeit im Bild, in der Emotion, die dem Bild oder den Personen darin entspringt.

 

Kunst ist der Moment, in dem wir als Zuschauer und als Macher uns in dieser Verletzlichkeit begegnen.

 

Un das ist nicht ausschließlich der Drama vorbehalten. In jeder guten Komödie schwingt dieser Strom mit. Die Figuren müssen sich selbst in absurdester Situation ernst nehmen, dann docken wir uns an. Wir fühlen sie, wir fühlen uns. Dieses Zittern, dem wir uns entziehen wollen und gleichzeitig nicht entfliehen können.

 

Die Grenze ist fein. Jenseits davon liegen Pathos und Fremdscham eng beieinander – das ist nicht der Weg. Oder vielmehr: Es gibt kein nicht. Kein So macht man das. Kein Das habe ich so in der Schauspielschule gelernt. Kein verkopftes Konzept als Auslöser; höchstens als zusätzliche ästhetische Komponente.

 

Es ist egal, um welche Banalität sich die Geschichte dreht – wenn die Hauptfigur still dasitzt und ihr Gesicht in den Händen vergräbt, und es kurz sticht, wenn dieses Vibrieren dich erreicht.

 

Durch den Bildschirm, den Bildrahmen, die Bühnenkante. Wenn wir uns für einen Moment eins fühlen. Einfach in unserem Menschsein.

 

Ich möchte irgendwann mal einen Film drehen, in dem ich 1,5 Stunden ohne Ablenkung in die Kamera blicke und mir nur die Gedanken notiere, die auftauchen. Vielleicht eine Art düstere Antimeditation. Ein Horrortrip zu sich selbst. Solche Experimente, die an die Substanz gehen. Die sich mit sich selbst beschäftigen.

 

Wahrhaftigkeit lässt sich nicht verzweifelt suchen. Sie kommt, wenn man den Weg geht – aufrichtig, mutig, menschlich. Mit einer innerlich eingravierten Empathie, die zeitlebens in uns reingeschnitten wurde und nun als unverwechselbares Muster vernarbt ist. Und wenn wir ähnliche Muster erkennen, zieht es an denselben Stellen. Stiller Schmerz, der aber keiner ist. Ein Zeichen nur, dass wir leben. Der uns dort abholt, wo wir gerade sind. Wenn wir weit in die Ferne und zugleich tief in uns selbst blicken.

 

Wahrscheinlich wollte Aristoteles genau das mit Katharsis beschreiben – diese emotionale Reinigung, die rabiater vorgeht als jede Meditation, aber dann eine andere Tiefe mit sich bringt. Nur leben wir heute in einer anderen Zeit. Wir beschreiben andere Dinge als pathetisch. Wir leben in permanenter Öffentlichkeit und suchen die Wahrhaftigkeit im Kleinen. In den Momenten zwischen den Zeilen, wo scheinbar nichts passiert.

Und wenn mich jemand fragt: Was ist Kunst? Dann genau das. Vielleicht ist das noch mehr Kunst als alles Ambige daran.

 

In einer Welt, die uns im Minutentakt mit bunten TikTok-Videos, plingenden Nachrichten und riesigen Werbebannern bombardiert, möchte man einfach mal zwei Stunden lang in jemandes Augen schauen. Ohne Ablenkung. Ohne Schnitt. Und oft halten wir das gar nicht mehr aus. Wir halten auch uns so lange nicht mehr aus. Zack. Und da ist der schon, der Implus, die Hand gleitet in die Hosentasche zum Handy hin.

 

Wir haben das Gefühl, dass nichts wirklich Neues in der Kunst entsteht. Entstehen kann. Nach den Surrealisten haben wir nur noch dekonstruiert, zerlegt, demoliert, bis keine Zwiebelschale mehr übrig war. Und die Zwiebel ist mittlerweile so trocken, dass sie keine Tränen mehr hervorruft – nur noch Ekel. Wir vermissen das Bild der ganzen Zwiebel. Wollen zurück, uns noch einmal umschauen. Nicht nur in der Kunst – auch in der Wissenschaft würde das guttun. Zurückgehen, schauen, wo wir falsch abgebogen sind. Wo sich noch andere Wege abzweigen könnten.

 

Nicht umsonst sagt man: Mach eine Kinderkiste auf und schau rein. Du wirst überrascht sein, wie vieles davon noch latent in dir da ist.

 

Wir sind so weit gegangen im Richtig-Falsch-Modus – in der Wissenschaft, die gerne schnell postuliert, aber auch in der Kunst, in allem – sodass wir nur noch in Narrativen gefangen sind. Und innerhalb dieser denken. Mein Regiedozent sagte mal: Wenn eine Szene nicht funktioniert, dann geh einen Schritt zurück, in die vorherige Szene. Da liegt oft der Hund begraben. Und ich frage mich: Wie viele Szenen müssten wir in unserem positivistisch-naturalistischen Denken zurückspulen, bis wir wieder auf den grünen Kern stoßen? Oder sollen wir den Weg nicht zumindest noch einmal von ganz hinten fahren, um zu sehen, ob wir richtig liegen? Ob wir wirklich keine unscheinbare aber produktive Kreuzung übersehen haben? Uns als Linke kurz konservativ eintauchen, als Rechte progressiv eintauchen – richtig, aufrichtig eintauchen. Und wenn wir dann immer noch der Meinung sind, wir hätten recht – dann erst haben wir’s wirklich.

 

Auch unsere Wahrnehmung springt. Ich liebe Lars von Triers Filme, vor allem die, die nicht auf großen Leinwänden gelaufen sind. Einer meiner Lieblingsfilme von ihm ist Five Obstructions. Meine Meinung dazu hat sich über jahre aber extrem gewandelt, ich würde sogar sagen, ich habe den Film erst dieses Jahr verstanden.

 

Im Film geht es darum, dass von Trier seinem Mentor Jørgen Leth fünfmal dieselbe Aufgabe stellt: einen seiner Kurzfilme neu zu drehen – aber jedes Mal unter anderen, absichtlich einschränkenden Bedingungen.


Mit 18 dachte ich, die Idee ist, man soll sich als Künstler immer selbst herausfordern, um kreativ zu werden – durch neue Framings, Spiel mit schrägen Formen und damit einhergehendem ästhetischen Widerstand. 

 

Mit 30 sehe ich in diesem Film die Suche nach Wahrhaftigkeit mittels Perfektionsaufgabe und innerer Grenzüberschreitung. Suche nach diesem inneren und äußeren Vibrieren. Der Küsntler soll lernen, das wieder auszustrahlen. Obwohl er schon viele Jahre in seinem Beruf steckt.

 

Und irgendwo bleibt aber dieser Clue aus der Jugend, aus der Kindheit: Dass mir dieser Film gefällt, bevor ich ihn richtig verstehe. Dass Glück und Fülle in und durch innere Verletzlichkeit entstehen. Dass wir das zulassen können – ohne übermäßiges (Selbst-)Mitleid, ohne Pathos.

 

Vielleicht lächeln ältere Leute deswegen weniger, aber wenn – dann gehen sie darin auf. Trotz allem, was sie erlebt haben, können sie lächeln. Sie können wahrletztlich da sein.

 

P.S. Ich stecke gerade in der letzten Woche vor der Philosophie-Hausarbeitabgabe, habe viele tolle neue Grafikdesignkunden und kaum Zeit, nächste Woche bin ich wieder mehr da, versprochen. 

Dieser Beitrag wa übrigens durch den Film "Epidemic" von Lars von Trier inspiriert, toller Film.

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